Das neue Buch von Yasmina Reza ist ein Sammelsurium – ein bisschen Kuriositätenkabinett, ganz viel Schatzkammer.
„In Verhandlungen sagen Leute oft, sie hätten ‚über dies und das’ geredet. Sie treffen sich im Nirgendwo und sagen einander Dinge, deren Substanz sich sofort in Luft auflöst. Keine Vorwürfe, kein Kummer. Die Rückseite des Lebens. Man leistet sich Gesellschaft, man verbringt Zeit miteinander. Es ist leicht. Dies und das heißt nur: da sein, und das nicht einmal zum Reden.“
Wie auf einer Bühne, für die Yasmina Reza so meisterhaft schreibt, sehe ich vor mir eine Lektorin des französischen Verlags Flammarion, die aus unerfindlichen Gründen eine Zigarette zwischen den Fingern mit perfekt manikürten Nägeln hält, während sie kratzig in einen Telefonhörer spricht: „Ma chère, c’est terrible, le contrôle de gestion me prend à la gorge, j‘ai encore besoin d’un bestseller sûr, aurais-tu quelque chose dans un tiroir?“ Und aus dem Off hören wir die Stimme von Yasmina Reza (aus ebenso unerfindlichen Gründen auf Deutsch): „Mach dir keine Sorgen, ich habe tatsächlich was in der Schublade, daraus zimmere ich euch einen Umsatzbringer, pas de problem – schick einen Verrechnungsscheck.“
DIE RÜCKSEITE DES LEBENS versammelt auf 195 Seiten über 50 Texte, die von Claudia Hamm fließend übertragen wurden, mir aber zu meiner Freude das Gefühl schenken, den französischen Klang aber zu hören; Yasmina Reza hat sie (angeblich) im Lauf der Zeit gesammelt und zum Teil (angeblich) für sich selbst geschrieben. Bei einer Autorin wie Madame verbietet es sich, in diesem Zusammengang von „Fingerübungen“ zu sprechen, denn selbst ANHANG, der letzte (und kürzeste) Text – den man für kaum mehr als eine Anekdote halten könnte, die man zum Amüsement erzählt –, öffnet und schließt mit wenigen Worten einen Resonanzraum, in dem andere Autor*innen ganze Romane suchen würden. Selbes gilt für EIN VERSEHEN und diverse andere.
YASMINA REZA SCHREIBT TEXTE, DIE SICH WIE ELEGANTE PEITSCHENSCHLÄGE ANFÜHLEN
Highlights wie EIN GLAS WASSER, in dem eine Neu-Zugezogene in der Provinz zum Problem für die ehemalige Leitlöwin der Gesellschaft wird, die Beerdigungsszene EINE HOMMAGE und L’ANNÉE AUTOMOBILE, in der durch den Verbleib einer eher unattraktiven Buchsammlung viel erzählt wird über die Kunst, Abschied zu nehmen, passen perfekt in den Reza-Kosmos, wie wir in von Theaterbühnen und Romanen kennen; möglicherweise geben uns die persönliche Erinnerungsfragmente wie DORIA gar einen Einblick in das Leben der Autorin … oder zumindest in das, was uns Reza ebenso wohltemperiert wie -kuratiert anbieten möchte. Und FREUNDE, DIE ICH LEBENS NICHT GEKANNT HABE: DIANE ARBUS? Ist vielleicht eine Auftragsarbeit für ein Magazin, die dann nicht zustande kam.
Diesen Miniaturen – denen mit Sprengkraft und jenen, bei denen man eher Luft aus einem Ballon entweichen hört wie bei NELLA STRADA – stehen Gerichtsprotokolle gegenüber: Reza, so erfahren wir aus dem Werbetext des Verlags, beobachtet seit Jahren französische Strafprozesse. Es geht um Mord und Betrug; um eine Frau, die im Moment größer Überforderung keinen anderen Ausweg sieht, als eine Spritze aufzuziehen; um einen Mann, der seine Frau kaltblütig umgebracht hat; um einen anderen, der wegen unterlassener Hilfeleistung angeklagt wird. Jack Sion werden sexuelle Übergriffigkeit vorgeworfen von Frauen, die sich in seinen Armen ein Wunder erhofft haben, und Fabienne Kabou steht vor Gericht, weil sie ihren Säugling bei nahender Flut allein am Strand zurückgelassen hat (ein Fall übrigens, der preisgekrönt verfilmt wurde).
Yasmina Reza schildert in wenigen Absätzen die Abgründe von Menschen, denen man diese auf der Straße nicht ansehen würde, vor allem aber auch die Problematik eines Gerichtssystems, in dem es mehr darum geht, den Prozess zu gewinnen, als darum, Gerechtigkeit walten zu lassen. Wir alle haben vermutlich eine Anwaltsserie, die wir besonders mögen? Für Reza ist es die Realität, denn was sie dort beobachtet, wirkt wie auf einer Bühne inszeniert (und ließ mich an ANATOMIE EINES FALLS denken).
ALS LESER VON GERINGEM VERSTAND HADERTE ICH ZUERST MIT DEM NEUEN BUCH VON YASMINA REZA
Und doch, und ach, und herrje, beim ersten Lesen wollte der Funke nicht auf mich überspringen – allzu sehr hatte ich den Eindruck, dass die Autorin hier vor allem moralisieren und selbst die Anklage führen möchte … und sich noch dazu der Faszination von Gerichtsszenen bedient, ohne uns Lesenden dann die Auflösung zu verraten. Dass dies gar nicht notwendig ist, habe ich Leser von geringem Verstand erst verstanden, als ich die Yasmina Reza bei einer Buchvorstellung im Münchener Residenztheater live erleben durfte.
Zugegeben, man kann Anstoß daran nehmen, dass eine erfolgreiche, vermögende, vermutlich von vielen Lasten des Alltags befreite Frau von ihrem Olymp herabsteigt, um in den Niederungen der Realität darüber zu staunen, was die weniger Privilegierten so erleben. Gleichzeitig hat mir die Veranstaltung den Schlüssel zum Verständnis in die Hand gedrückt, als der Text GÉRARD vorgetragen wurde (nebenbei bemerkt: großartig von Juliane Köhler), den ich vorher mit einem Achselzucken überflogen hatte; ich finde ihn immer noch „naja“. Habe aber begriffen, dass Reza hier den einen Moment im Leben eines Menschen einfangen will, der zum Wendepunkt werden könnte, der etwas zerbricht und etwas neu formt, der einen Weg vorzeichnen kann … aber nicht notwendigerweise muss.
Und nun, nachdem ich DIE RÜCKSEITE DES LEBENS für das Schreiben dieser Rezension noch einmal gelesen habe? Finde ich tatsächlich alles, was das Werk von Yasmina Reza ausmacht, in diesem Band: Das Ringen um Identität, das Vor- und Selbsttäuschen, das Ungezügelte, das sich Bahn bricht, wenn die gesellschaftliche Fassade bröckelt, und diese ganz eigene Mischung aus alltäglicher Tragik und Komik (die nicht immer unterscheidbar sind). Natürlich kokettiert die Autorin mehr damit, ihre eigenen dunklen Seiten zu enthüllen wie in FRAU KLING, als es wirklich zu tun – hält sich und uns, die wir doch auch alle zum Wegsehen und Verurteilen neigen, dafür aber den Spiegel vor mit DER ASKET.
WAS BLEIBT? APPLAUS!
Manchmal steckt das Große im Kleinen, und das kann ich definitiv sagen über DIE RÜCKSEITE DES LEBENS. Ist es möglicherweise sogar ein guter Einstieg in das Werk der Yasmina Reza? Ich weiß es nicht. Aber rate auf jeden Fall dazu sich den schmalen Band im Buchhandel zu schnappen, willkürlich hier und da und dort hineinzublättern – und nicht meinen Fehler zu wiederholen, das Buch am Stück lesen zu wollen. Ein Text pro Tag, vielleicht zwei, aber nicht drei, dann entfaltet sich die Wirkung vielleicht am besten.
Zurück auf die Bühne: Die Lektorin tritt ab; die Darstellerin, die Reza verkörpert, wird auf einer Videoleinwand eingeblendet, wie sie Zettel verschiebt, neu anordnet, einen wegwirft, einen anderen aus einem Karton zieht, ihn – grimmig an einem pastellfarbenen Macaron knabbernd – dazulegt. Und dann? Lächelt sie.
***
Ich habe dieses Buch nicht selbst gekauft, sondern vom Verlag als Rezensionsexemplar erhalten. Bei meiner Rezension handelt es sich trotzdem nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung, sondern sie gibt lediglich meine Meinung wieder.
Yasmina Reza: DIE RÜCKSEITE DES LEBENS. Aus dem Französischen von Claudia Hamm. Carl Hanser Verlag, 2025.
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