Achtung, Spoilers ahead in diesem (sorry!) Verriss
„Sie hebt die Hand zum Mund und wirft eine Kusshand gen Himmel. Zum ersten Mal in ihrem Leben ist Juliette Darling auf sich allein gestellt. Sie lächelt und geht nach Hause.“
Wäre ich garstig – und empfindsame Seelen seien vorgewarnt: Während ich dies schreibe, belagert mich dieses dornige Gefühl sehr –, würde ich meinen Leseeindruck vermutlich wie folgt zusammenfassen: „Angesichts der Tatsache, dass dieser Roman als Hardcover bei Kindler erschienen ist, dreht sich irgendwo ein Literaturlexikon im Grab herum.“
Eigentlich wäre es leicht, dieses Buch zu lieben – ich bin begeistert vom Schutzumschlag mit diesen herrlichen Farben, bezaubert vom orangeleuchtenden Lesebändchen zum blauen Einband, und weil der Werbetext einen Coming-of-Age-Roman vor dem Hintergrund des großen Stromausfalls von New York im Jahre 1977 verspricht: What’s not to love? Hinzu kommt, dass die in Berlin lebende amerikanische Autorin Syd Atlas immer wieder zeigt, dass sie hervorragend schreiben kann … aber leider nur als Momentaufnahme und nicht auf der Langstrecke. Wurde dieser Roman auf Grundlage eines Exposés verkauft, in dem sich verlässlich ein verkaufsstarkes Element an das andere reihte – und dann ohne intensive Arbeit durchgewunken?
Juliette und David, natürlich die Außenseiter ihrer Schule, sind seit ihrer Kindheit unzertrennlich (wofür die Autorin durch einen Grillunfall ein herrliches Bild findet), doch der Einlösung des Versprechens, sich gegenseitig von der sexuellen Unschuld zu befreien, steht im entscheidenden Moment zweierlei im Weg: Davids unheilbare Krankheit und Rico, der sexy Pizzabote, der seinen Arm im Auto mit einer Selbstverständlichkeit auf die Rückenlehne hinter Juliette legt, dass nicht nur ihr, sondern auch mir das Herz überlaufen könnte vor Glück. Überhaupt sind es diese besonderen Momente, die Syd Atlas mit einer Zielgenauigkeit und Bravour setzt, die mich hoffnungsvoll weiter und weiter und weiter lesen ließen … aber ach: die Summe von Einzelteilen ergibt kein schlüssiges Ganzes.
ES WAR EINMAL IN BROOKLYN krankt meiner Meinung nach daran, dass die Autorin sich zu viel vorgenommen hat: Eine klassische Coming-of-Age-Thematik, in deren Verlauf zwei Eltern wieder zueinander finden und auch ein halbherziges Coming Out nicht fehlen darf, das alles vor – auf der Stichwortebene – beeindruckender Kulisse (der Stromausfall, die damit einhergehenden Plünderungen, die Morde des „Son of Sam“) und mit allerlei sozialem Gefälle. Aber nichts davon verfängt wirklich: Rico, die meiner Meinung nach interessanteste Figur in der Genre-Dreifaltigkeit, darf nach Zusammenfassung von DIE MÖWE JONATHAN und missglückter Entjungferung von der Bildfläche verschwinden, ohne noch einmal gesehen zu werden; Juliette entwickelt nach der Erfahrung von sexueller Gewalt ein Problem, das sich am Ende zum Glück im Schnellvorlauf deutlich einfacher therapieren lässt als Davids Krankheit; und die lange dunkle Nacht, in der New York zum Pulverfass wird? Ist in der Vorstadt eher geruhsam und im ach so gefährlichen Bushwick letztendlich auch: Selten war eine Plünderungswelle so schülerstreichig und der Moment, in dem ein Junge sich endlich als Mann fühlen darf, so verschlafen.
Vermutlich tue ich nicht nur der Autorin mit meiner Einschätzung unrecht, sondern auch der Übersetzung von Silke Jellinghaus – aber ist es möglich, dass der „Grillkäse“, den Juliette bei einem Date mit Rico bestellt, ein „grilled cheese“ ist? Sollte dies so sein, unterstreicht es meinen Eindruck, dass bei der Entstehung des Buchs nicht auf die Detailarbeit geachtet wurde, die aus einem „okay-ishen“ Manuskript ein wirklich gutes Buch hätte machen können. Sehr schade.
***
Ich habe dieses Buch von einer Freundin geschenkt bekommen, die beim Verlag arbeitet; es handelt sich bei dieser Rezension trotzdem nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung, sondern sie gibt lediglich meine Meinung wieder.
Syd Atlas: ES WAR EINMAL IN BROOKLYN. Aus dem Englischen von Silke Jellinghaus. Rowohlt Verlag, 2023
Schreibe einen Kommentar