Ich lesen eigentlich keine Spannung – die hier liebe ich!

„Lamb hatte sich nicht verändert; er war immer noch ein schwabbeliger, fetter, ungehobelter Bastard und immer noch so angezogen, als hätte man ihn bei der Kleiderhilfe aus dem Fenster geschmissen, aber mein Gott, dachte River – Lamb war ein Agent. Er hatte eine Fluchtreserve hinter der Pinnwand in seinem Büro versteckt, die er mit Gutscheinen und abgelaufenen Sonderangebotswerbungen gepflastert hatte – eine Fassade, hinter die niemand blickte. Irreführung. So handelte ein Agent, das hatte jedenfalls der O.B. River immer eingeschärft: Du stehst unter ständiger Beobachtung. Vergewissere dich, dass niemand das sieht, was er zu sehen glaubt.“

Ich gehöre zu den Menschen, die sich erschrecken, wenn es bei BAMBI blitzt und donnert, und demzufolge fehlt mir das Verständnis, was daran reizvoll sein könnte, sich jenseits der ein oder anderen TV-Serie mit Spannungsromanen noch mehr Mord und Totschlag zu Gemüte zu führen – aber ich bin auch ein Mensch, der so ziemlich alles tun, wenn ein gutgebauter und charmant parlierender Mann eine Empfehlung ausspricht. Also habe ich SLOW HORSES gelesen, den ersten Band der Jackson-Lamb-Serie von Mick Herron … und heißa hopsa Lillebror, was war das für ein Vergnügen!

Man kann es nicht unbedingt ein Kompetenzzentrum nennen – oder vielleicht doch? Ins Slough House irgendwo in London werden jene Agenten abgeschoben, die beim MI5 in Ungnade gefallen sind, in der Hoffnung, dass die „Slow Horses“ irgendwann von selbst kündigen. Zu ihnen gehört auch der junge River Cartwright, dem das Scheitern eines Übungseinsatzes in die Schuhe geschoben wurde, die Alkoholikerin Catherine Standish, der Computerexperte Roderick Ho, der so gerne einen coolen Spitznamen hätte, und natürlich Jackson Lamb, der Chef dieser (vermeintlichen) Versager, der keinen Zweifel daran lässt, dass das Freundlichste, was er für seine zusammengewürfelte Truppe übrig hat, Verachtung ist. Aber dann wird ein – anscheinend – ganz normaler Junge von einer – möglicherweise – weitverzweigten rechten Terrorgruppe zwecks baldiger Hinrichtung entführt … und obwohl zunächst nichts darauf hinweist, dass die „lahmen Gäule“ etwas damit zu tun haben könnten, finden sie sich plötzlich in den fieberhaften Ermittlungen wieder.

Zugebenen: Nichts, aber auch wirklich gar nichts in diesem von Stefanie Schäfer übersetzten Krimi ist originell oder überraschend – die Figuren haben alle reichlich Schlagseite, alles ist stets mindestens einmal anders, als man denkt, und die Konstruktion samt Auflösung ist nichts, was ich nicht schon auf Netflix gesehen hätte; erstaunlicherweise fasst schon der Trailer für Apple-TV-Verfilmung von SLOW HORSES die Handlung so komplett zusammen, dass man sich das Ansehen fast sparen könnte. Und trotzdem habe ich die 472 Seiten mit großem (und sogar stetig wachsendem) Vergnügen gelesen: Mick Herron schreibt mit viel Tempo, großer Sympathie für seine Figuren und einem treffsicheren Gespür dafür, wie man die unterschiedlichsten Atmosphären erzeugt. Ich freue mich jetzt schon auf den nächsten Fall für Jackson Lamb!

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Ich habe dieses Buch von einem Freund geschenkt bekommen, der beim Verlag arbeitet; es handelt sich bei dieser Rezension trotzdem nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung, sondern sie gibt lediglich meine Meinung wieder.

Mick Herron: SLOW HORSES – Ein Fall für Jackson Lamb. Aus dem Englischen von Stefanie Schäfer. Diogenes Verlag, 2019