Jeder Gottesnarr ist anders
„Vera war mädchenhaft romantisch, sie war eingenommen von allem Überraschenden und Bizarren, von den großen Themen – nicht Geringeres als Liebe und Tod –, über die sie, zum Glück, nichts sagen konnte. All das führte zu einer eigenartigen Zuneigung zu schlechter Kunst, in der sie möglicherweise doch Wahrheit und große Gefühle erkennen konnte.“
Ich gehe gerne in die Oper, ich genieße die Musik und das Spektakel vor und jenseits des Orchestergrabens, und wenn zwei Liebende sich anschmachten in einer dramatischen Melange aus größter Empfindsamkeit und dräuendem Unheil gefangen: What’s not to love? Da steht im Vordergrund, wie gesungen wird – und nicht, was da um mich herumsoprant oder -tenort. „Weia!“, möchte ich rufen, „Waga! Woge, du Welle, walle zur Wiege! Wagalaweia!“
DIE MANON LESCAUT VON TURDEJ von Wsewolod Petrow, 1946 geschrieben, aber in Russland erst 2006 veröffentlicht und 2012 in der Übersetzung von Daniel Jurjew vom Weidle Verlag mit Stellenkommentar und Nachwort für die deutschen Lesenden zugänglich gemacht, wurde von allen namhaften Feuilletons gepriesen, und wer die Elogen aus der Zeit, NZZ und FAZ liest (oder der wunderbaren Maria Piwowarski zuhört, was ich zumeist für lebensbereichernder halte), kommt nicht umhin, diese „schönste Liebesnovelle des 20. Jahrhunderts“ oder „atmosphärisch-bukolische Trouvaille“ lesen zu wollen.
Die Geschichte selbst ist großartig: Ein sowjetischer Lazarettzug fährt von Irgendwo nach Nirgendwo, von einer Front zur anderen – mutmaßlich, um medizinisches Personal und Kanonenfutter zu befördern, vielleicht nur, um in Bewegung bleiben zu können in einer Welt, die in permanenter Explosion erstarrt ist. An Bord befindet sich ein junger Offizier, der Goethe noch auf Deutsch liest, um an seinem alten Leben im intellektuellen Petersburg festhalten zu können, und doch bereits vom Krieg gezeichnet ist. Man wünscht ihm alles Glück der Welt … und möchte umso lauter „Bro! NOOO!“ rufen, als er sich in eine Krankenschwester verliebt, in der er die titelgebende, kapriziöse Hauptfigur eines Romans und dessen Opernumsetzung wiederzuerkennen meint – während ich trotz energischen Gegenversuchen stets die junge Veronika Ferres aus „Rossini“ vor mir sah.
Vermutlich ist es folgerichtig, dass der Intellektuelle sich im Ausnahmezustand Hals über Kopf in eine Amour fou stürzt – und vor allem: stürzen will – mit einer Frau, die in seinem alten Leben kaum eine Randnotiz im Tagebuch geworden wäre; unangenehm werde ich an die geil-dumpfe Bäckersfrau bei Joachim Meyerhoff er-cringe-innert, zwischen deren Schenkeln der Intellektuelle etwas findet, was ihn gleichzeitig erregen muss und beschämen darf. Denn obwohl sich dem Offizier mit der Ärztin Nina eine deutlich bessere Partie anbieten würde, muss er natürlich das Hangen und Bangen wählen, aus dem sich das perfekte Libretto einer Oper speisen könnte … oder eben dieses Buch, dessen Zauber mir als Leser von geringem Verstand verschlossen blieb. Dabei könnte Vera eine wirklich fesselnde Figur sein, und ja, ich bin sicher, man kann so viel mehr in ihr und diesem Buch sehen als ich. Aber … für mich fehlte dann doch die Arie.
Sehr hübsch indes und hoffentlich für lange Zeit in meinem Gedächtnis: Unser liebestaumelnder Offizier wird als „jurodiwyi“ beschimpft, als „Gottesnarr“ – was im Anhang dankenswerterweise erklärt wird mit „im übertragenen Sinn nennt man so die Menschen, die keinen praktischen Verstand haben, Tagträumer, Bücherwürmer und Habenichtse. Oder auch Idioten“.
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Ich habe dieses Buch selbst gekauft; es handelt sich bei dieser Rezension also nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung, sondern sie gibt lediglich meine Meinung wieder.
Wsewolod Petrow: DIE MANON LESCAUT VON TURDEJ. Aus dem Russischen von Daniel Jurjew. Weidle Verlag, 2012
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