Können sich ein Gebet, Sex, literarischer Exkurs und berauschende Sprache zu einem stimmigen Ganzen verbinden – oder bleibt HUNDESOHN, der Debütroman von Ozan Zakariya Keskinkılıç, ein Blick ins Kaleidoskop?
„Zunge heißt auf Türkisch dil, es ist das gleiche Wort wie für Sprache. Das ist mir erst spät bewusst geworden. In der Schule staunten alle, als Frau Meier das Wort Muttersprache übersetzte in mother tongue, in lague maternelle, in lengua materna. Wie poetisch, sagte Max. Malerisch, sagte Lea. Irgendwie blumig, sagte Tim. Im Türkischen sagen wir auch Mutterzunge, habe ich durch das muffige Klassenzimmer gerufen und war wütend. Das Türkische fand niemand poetisch, malerisch und blumig. Max konnte sagen, siktir lan, wenn sich jemand verpissen sollte. Lea nannte Cemile immer Börek und Lahmacun und Döner, wenn sie sie ärgern wollte. Und Tim brüllte auf dem Spielfeld nach dem Ball, hadi oğlum, hadi. Aber ana dili, Mutterzunge, konnte niemand sagen.“
DIES IST EINE LIEBESGESCHICHTE, behauptet der Rückseitentext. Und eigentlich bin ich da schon raus, denn so habe ich HUNDESOHN nicht verstanden. Weswegen diese Gedankensammlung sehr umfangreich wird. (Und: Nachfolgend kann meine Rezension Spoiler enthalten.)
Ozan Zakariya Keskinkılıç erzählt in seinem literarischen Debüt auf 220 Seiten – die sich so atemlos schnell lesen, als seien es 50, und im positiven Sinne anfühlen wie 500 – von einer Obsession: Zeko fiebert seiner Reise in der Türkei entgegen, denn in neun Tagen (in sieben, in fünf …) wird er Hassan wiedersehen, den er verehrt und begehrt … und ja, vielleicht sogar liebt. Der aber vermutlich unerreichbar ist, weit über die 3.000 Kilometer hinaus, die zwischen Berlin und Adana liegen.
Wer eine stringente Handlung bevorzugt, wird in HUNDESOHN ebenso enttäuscht werden wie diejenigen, die sich auf eine Liebesgeschichte freuen, denn Herzflimmern, vorsichtige Blicke und fragende Berührungen finden sich hier nicht. Wie soll das auch gehen, denn Zeko gesteht seiner Therapeutin:
„Ein Mann, der einen Mann liebt, lebt das Unbekannte, er tut etwas, das ihm niemand beigebracht hat. Jedenfalls wurde es mir nicht beigebracht, als ich ein Kind war, gab es keine Märchenbücher, in denen sich Prinzen und Prinzen verliebten, keine Netflix-Serie, in denen der Mädchenschwarm des Rugbyteams einen nerdigen Twink küsst.“
HUNDESOHN von Ozan Zakariya Keskinkılıç ist Porn – Sprach-Porn, und zwar hinreißender!
Womit Zeko deutlich weniger Probleme hat als mit Liebe ist Sex – den findet er reichlich, er nimmt und lässt sich nehmen, und von einem seiner Dates hat er sich gerade Filzläuse eingefangen. Mit denen beginnt der Roman, und Zeko zählt sie, weil es überhaupt wichtig für ihn ist, die Welt so zu vermessen – da sind die mindestens fünfzehn Parasiten, die er sich aus dem Schamhaar zupft, vor allem aber die 29 Sommersprossen auf Hassans Gesicht, die 67 Minuten, die Zeko neben ihm im Auto sitzt, die 412 Haare, aus denen jede seiner Augenbrauen besteht, die 6720 seines Schnurrbarts. Aber geht es dabei um ein Rationalisieren durch ein Festschreiben in Zahlen? Natürlich nicht, denn wie alles andere dienen sie der Steigerung der Eindrücke und der Vertiefung von Zekos schwelgerischem Gefühl, das uns atemlos durch die Seiten fliegen lässt.
Ozan Zakariya Keskinkılıçs Sprache ist überbordend, ohne barock verspielt zu sein – wie ein schweres Parfüm, aber fern davon, uns Kopfschmerzen zu bereiten, wenn wir das alles gierig in uns aufsaugen. Diese Tonart ist es auch, die den Autor zu einem Solitär macht unter den mir bekannten deutschen Schreibenden mit türkischem Familienhintergrund – und wir, die in der Regel nicht mit zwei Sprachen aufgewachsen sind, dürfen staunen, wie sich in Worten und Sätzen zwei Kulturen umarmen und fortstoßen.
„Baba sagt immer, bir lisan, bir insan. İki lisan, ik insan. Eine Sprache, ein Mensch. Zwei Sprachen, zwei Menschen“, schreibt Ozan Zakariya Keskinkılıç: „Das bedeutet, je mehr Sprachen du sprichst, desto größer ist deine Welt, desto mehr bist du. | Aber nicht alle Menschen sind gleich, auch wenn sie es immer behaupten. Und nicht jeder altert mit der Sprache auf dieselbe Weise. | Im Türkischen fühle ich mich wie ein zwölfjähriges Kind, im Türkischen werde ich einfach nicht älter.“
In diesem Zusammenhang muss ich auch eine andere Textstelle zitieren, die neben der Erweiterung der Welt durch zwei Sprachen eine Limitierung deutlich macht: „Ich habe mich gefragt, ob Baba deshalb nur von der harten Arbeit sprach, ob seine Zunge deshalb immer nach Maschine roch. Ob Baba so wenig über seine Gefühle sprach, weil Langenscheidt es ihm nicht beigebracht hat.“
Der Autor bietet uns viel an. Und wir? Bekommen nicht genug davon.
HUNDESOHN ist Anrufung und Gebet, und man ist noch dazu geneigt, von einer literarischen Standortbestimmung zu sprechen, weil der Autor seinen Erzähler mit der Erinnerungen an Alltagsrassismus ebenso hadern lässt wie mit der Frage, was das für ihn ist, Männlichkeit, die von ihm erwartet wird, die er aber jenseits der Definitionen seiner Familie suchen muss – und vermutlich auch nicht in der Moschee beim Gebet findet, wenn er die Ärsche ansieht, die sich ihm dort entgegenstrecken. Diese Sexualisierung von Männern, die das ganz sicher nicht wollen, kann man schrecklich finden, aber für Zeko bedeutet dies weit mehr als die kleine Alltags-Geilheit zwischendurch: „In meiner Großvaterzunge bin ich ein räudiger Hund, der seine Schnauze in die Bärte schöner Männer schiebt.“
HUNDESOHN springt – man ist versucht zu sagen: irrlichtert (und das ist in diesem Fall keine Kritik, sondern zu meiner eigenen Überraschung ein Gütesiegel) – zwischen Orten und Zeiten hin und her, erzählt von Zekos Kindheit, seinem Großvater, seinen Therapiesitzungen und seiner besten Freundin Pari, die vermutlich bei allen Lesenden den intensiven Wunsch auslöst, einen eigenen Roman über sie lesen zu dürfen: „Punk ist roh und politisch. Punk heißt Rebellion gegen das Establishment. Punk ist der Islam in Reinform, sagt Pari. Oder ist der Islam Punk als Religion?“
Welche Geschichte erzählt HUNDESOHN denn nun?
DIES IST EINE LIEBESGESCHICHTE, behauptet der Werbetext weiterhin, und ich bin immer noch nicht so weit, das zu unterschreiben. Zumal die Liebe zwischen zwei Männern vielleicht doch mehr Gefahr ist als Erfüllung? „Die Hand, die dich streichelt, sagt Nene, kann dich töten. Niemand weiß das besser als der Hund, der unter Männern lebt“, heißt es dazu, und das stellt der sonst im schweißglänzenden Glorienschein vibrierende Hassan unter Beweis: Der wird so wütend, weil sein Hund nicht pariert, dass er ihn vor den Augen seiner Freunde erwürgt. Später weint er um ihn, weil es für einen Mann in seiner Gedankenwelt erlaubt ist, aus verletztem Stolz zu töten, er aber Tränen nur im Geheimen vergießen kann. Das lässt nicht auf ein Happyend für Zeko hoffen, und wer das erwartet, ist hier leider wirklich im falschen Buch.
Wer hier bellt, ist nicht immer ganz klar …
Obwohl Zeko sich selbst sprachlich immer wieder in der Rolle des Hundes inszeniert, bei Dates oder in anderen Zusammenhängen, reserviert er das Bild nicht nur für sich:
„Hassan ist ein Hund, der geht und kommt, wie und wann er will. Er bellt und schweigt, wie und wann er will. […] Manche Hunde muss man würgen, bevor sie einen beißen, hat Dede immer gesagt. Werden, wovor du dich fürchtest, damit du dich nicht mehr fürchtest, denke ich. Das verlangt Genauigkeit und Scharfsinn und ein kleines bisschen Naivität.“
Überhaupt, Hassan. Der ist mehr als nur ein Mann aus Fleisch und Blut und Schwellkörpern, mehr als ein Sommernachtstraum mit roter Badehose und vielen Haaren, mit einem Geruch nach Orangen und Salz, vermischt mit Zigarettenqualm. Nicht erst am Ende des Buchs habe ich mir die Frage gestellt, ob es Hassan wirklich gibt – oder ob der Junge, den Zeko vor Jahren im wilden Rausch der Pubertät zum Zentralgestirn seines Verlangens verklärt hat, nur noch der Platzhalter ist für Zekos Lust und Unsicherheit, für den schmerzhaften Wunsch, dazu zu gehören, ein Mann unter Männern, der doch mehr begehrt als nur ihre Nähe.
Das könnte auch unterstrichen werden durch eine der meiner Meinung nach sexysten Szenen, in der Zeko einen Mann in der Ringbahn beobachtet: Der ist heiß, ohne es darauf anzulegen, Zeke entsprechend hingerissen … und dann umso wütender, als der in nächster Nähe sitzende Unerreichbare sich doch mehr für die Brüste einer Frau interessiert. „Er reißt die Augen weit auf, der Hund, als hätte er seine Beute gerade erst gefunden.“ Ein paar Sätze weiter verflucht Zeke dann auch ihn als Hundesohn: belegt ihn mit der Beschimpfung, die er doch sonst für sich selbst und Hassan wählt, um ein Wort zu finden für sein Begehren, seine Triebe, natürlich auch seine Angst. Fast denkt man an Thomas Mann und dessen im Keller bellenden Hunde. Aber machen wir dieses Fass nicht auch noch auf; Ozan Zakariya Keskinkılıç hat’s ja eher mit Kafka.
Manche Geschichte haben eine zweite Ebene; HUNDESOHN ist ein kubistisches Kunstwerk aus ineinander verschränkten Themen.
DIES IST EINE LIEBESGESCHICHTE? Are you fucking kidding me! Alles in HUNDESOHN ist Diskurs und Reflektion. Die meiste Zeit fällt dies aufgrund der Schönheit seiner Erzählsprache nicht auf – und wenn doch (beispielsweise, wenn Zeko mit Pari darüber streitet, ob ein Schwanz nun das Siegel des Patriarchats ist oder auch nicht hilft, wenn der falsche Mann, die falsche Identität an diesem Geschlecht hängt), dann wirkt es auf mich zwar zu bewusst in den ansonsten fließenden Text gedrückt, stört aber nicht weiter.
Es ist natürlich kein Zufall, dass neben Zekos Bett der Koran, der Essayband POWER BOTTOM und DAS SCHLOSS liegen; Kafka begegnet man in diesem Roman sehr oft, und wenn man dessen Werk kennt, wird man sicher Anspielungen und Spiegelungen entdecken – tschüssikovsky, da bin ich raus. Deutlich lieber wäre mir gewesen, mehr über die Dichterin Forough Farrokhzad zu erfahren oder über die Schriftstellerin Semra Ertan, die sich vom deutschen Ausländerhass in den Freitod drängen ließ. Aber: Das Leben ist kein Wunschkonzert. Literatur auch nicht. Und erwähnte ich schon: THIS IS NOT A LOVE STORY!
Habe ich HUNDESOHN von Ozan Zakariya Keskinkılıç verstanden? Ach je! Habe ich den Roman genossen? Aber ja!
Zu den unzähligen Textstellen, die ich mir in HUNDESOHN markiert habe, gehört auch diese, die immer noch in mir nachhallt:
„Dilin bal gibi olsun, yara da açsın, sagt Anne. Deine Zunge soll wie Honig sein, aber sie soll auch verletzen. Nur was, wenn deine eigene Zunge verletzt ist, wessen Sprache hat ihr eine Wunde geschlagen, und welche Wahrheit gilt?“
Was mag sie sein, die Wahrheit in diesem Buch?
Als Leser von geringem Verstand maße ich mir nicht an, sie zu verstehen. Zumal man auch dem Erzähler nicht immer trauen sollte, wenn sich in die Dinge, die er seiner Therapeutin niemals sagen würde, das Wahre und das vermutlich nicht ganz Wahre mischen: Dass er am besten kommt, wenn er alte Socken riecht, verrät er da, behauptet aber auch, dass seine beiden ersten Male – mit einer Mitschülerin auf Studienreise in England, mit einem Typen in der Gemeinschaftsdusche nach dem Sportunterricht – vor Publikum stattfanden. Aber dann sind da auch diese beiden Punkte, die meiner Meinung nach die bessere Überschrift für das Buch wären:
„Ich hasse Männer, weil ich sie liebe.“
„Ich liebe Männer, weil ich sie hasse.“
Ich bin allerdings versucht, den Rotstift zu zücken und an den Rand zu schreiben, dass Ozan Zakariya Keskinkılıç besser „fürchte“ statt „hasse“ geschrieben hätte.
Alles hat ein Ende. Und dieses Buch hat keins, das sich leicht entschlüsseln lässt. Aber geht’s gar nicht immer um (Sprachwitz auf allerhöchstem Niveau incoming) die Wurst?
Und dann: das Ende. Kein Happyend, keine Hundenase, versenkt in Achselhöhlen oder zwischen Pobacken, oder was junge Menschen sonst so mit sich machen heutzutage, was weiß denn ich. Stattdessen: ein neuer One-Hour-Stand, ein besonders lustvoller … und einer, der mich irritiert zurückließ. Was will Ozan Zakariya Keskinkılıç uns damit sagen? Als ich den Roman das erste Mal gelesen habe, konnte ich das Buch danach nur unbefriedigt zuklappen. Beim zweiten Lesen frage ich mich: Ist das Zekos Art, seine Männlichkeit auf andere Art zu unterstreichen – oder grinst der Autor, während er uns feuchtwarm ins Gesicht reibt, dass Männlichkeit nichts ist, was man an einem Y-Chromosom festmachen kann?
DIES IST EINE LIEBESGESCHICHTE. Und bevor ich nun noch mehr aus dem Buch zitiere, noch mehr versuche, das schillernde Gefühl in Worte zu fassen, das ich beim Lesen empfunden habe, bin ich nun am Ende doch bereit, die Werbeaussage anzunehmen: HUNDESOHN erzählt meiner Meinung nach zwar keine Liebesgeschichte – aber der Roman ist vermutlich der Beginn einer Liebesgeschichte, die uns alle voller Begeisterung und nachhaltig mit Ozan Zakariya Keskinkılıç verbinden wird.
***
Ich habe dieses Buch nicht gekauft, sondern als Rezensionsexemplar vom Verlag erhalten. Bei meiner Rezension handelt es sich trotzdem nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung: Sie gibt lediglich meine subjektive und unbeeinflusste Meinung wieder.
Ozan Zakariya Keskinkılıç: HUNDESOHN. Suhrkamp, 2025.
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