Die erstaunliche Lebensgeschichte einer Frau – und eine Liebeserklärung ans Weitermachen

„Ich tue nie das Erwartbare. Ich weiß nicht einmal, was das Erwartbare ist. Wenn sie sagen, etwas geht nicht, mache ich es erst recht. Was ist Nein für eine Antwort? Nein ist der Anfang von Ja.“

Als Leser von geringem Verstand habe ich einige höchst sinnvolle Gewohnheiten, zu denen selbstverständlich gehört, dass ich nie ein Buch über den Jahreswechsel lese – das bringt Unglück und Verdruss, mindestens für mich, möglicherweise über das gesamte Erdenrund. Das erste Buch des Jahres muss besonders sorgsam ausgewählt werden, denn sonst kann man die folgenden 12 Monate sofort abhaken. Und die gleiche Aufmerksamkeitspflicht gilt für die letzte Lektüre, mit der man einen Strich macht, nicht nur unter das Lesejahr. Wobei dies 2023 leicht fiel, denn nicht nur sagte eine liebe Freundin „Ja, lesen, hier ist es!“, sondern der Titel könnte kaum besser sein: MIR GEHT’S GUT, WENN NICHT HEUTE, DANN MORGEN.

Der mir bis dato vollkommen unbekannte, in Österreich weltberühmte Fernsehmoderator und Kabarettist Dirk Stermann (Jahrgang 1965) erzählt auf 252 Seiten von seinen Begegnungen mit Erika Freeman. Die Wienerin, geboren 1927, musste 1939 vor den Nazis nach Amerika fliehen, wurde dort zur „Psychoanalytikerin der Stars“ und TV-Personality, und lebt heute wieder in Wien – im Hotel Imperial, um genau zu sein, wo sie Stermann jeden Mittwoch zum Frühstück empfängt.

Natürlich ließen sich hier nun die erstaunlichsten Lebensstationen von Erika Freeman aufführen (von denen man gerne noch mehr erfahren hätte) oder einzelne ihrer schlauen Ansichten hervorheben (auch wenn man diese hier und da als redundant empfinden darf), aber das würde zum einen den Rahmen einer Rezension sprengen, zum anderen dem Buch nicht gerecht werden. Denn so sehr ich den Aufkleber auf dem Umschlag als störend empfinde, er ist zutreffend: Hier entfaltet sich tatsächlich im Zeitraffer ein Jahrhundertleben voller Härten und Schönheit – und jeder Menge erstaunlicher Begegnungen –, und das in einer wirklich besonderen Form, die ich sehr genossen habe; lediglich die Fantasiesprünge des Autors, wenn etwa George Clooney seine Ehefrau nach Kukuruz fragt, hätten möglicherweise einer strengeren Redaktion zum Opfer fallen können. (In diesem Zusammenhang sei erwähnt: Die Seite 234 lässt sich seit dem 7. Oktober 2023 vielleicht nicht mehr so lesen, wie sie geschrieben wurde … und gleichzeitig bin ich der felsenfesten Überzeugung, dass man sie genau so lesen sollte.)

„Mein Verlag hat kein Gesicht, aber tausend Augen“, schrieb Ernst Rowohlt seinen Nachfolgenden ins Aufgabenheft. Daran musste ich denken, während ich mich hocherfreut vom Charme (und auch der Eitelkeit) der beiden Zentralgestirne dieses Buchs mitreißen ließ. MIR GEHT’S GUT, WENN NICHT HEUTE, DANN MORGEN ist die Einladung zu einer voyeuristischen Erfahrung: Als Lesende haben wir das Gefühl, dabei zu sein, wenn Frau Freeman ihre bis zum Rand gefüllte Tasse zitterfrei an den Mund führt, ihrem Besucher als Gastgeschenk Hotelshampoo in die Hand drückt und eins der besonders kleinen Croissants anbietet, die im Restaurant serviert werden … und vor allem dürfen wir den beiden zuhören.

Natürlich ist davon auszugehen, dass Stermann verdichtet, weggelassen und neu inszeniert hat, aber durch den gehobenen Plauderton schafft er einen so intimen, authentischen Rahmen, dass man sich im bestmöglichen Sinn wie ein Kind fühlt, das mit aufgerissenen Augen und Ohren am Tisch der Erwachsenen sitzen darf. Wird hier ein sympathisierendes Interview geführt, eine Art Therapie absolviert oder ist es – bewusst in Anführungszeichen gesetzt – „einfach“ das vorgeblich vertrauliche Gespräch zweier intelligenter, sich ihrer Wirkung höchst bewusster Menschen, die an vielen Stellen, wo Punkte stehen, eigentlich Ausrufezeichen setzen? All das. Und vor allem ist es: ein Vergnügen!

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Ich habe dieses Buch von einer Freundin geschenkt bekommen, die beim Verlag arbeitet; es handelt sich bei dieser Rezension trotzdem nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung, sondern sie gibt lediglich meine Meinung wieder.

Dirk Stermann: MIR GEHT’S GUT, WENN NICHT HEUTE, DANN MORGEN. Rowohlt Verlag, 2023