Florian Illies malt ein neues Bild von Caspar David Friedrich
„Wie kann es sein, dass ein und dasselbe Bild von einem einsamen Mönch am Meer den einen Menschen, den Kronprinzen, in tiefster Trauer trösten kann – und den zweiten, Heinrich von Kleist, hinabgleiten lässt in den tödlichen Sog der Einsamkeit und Untröstlichkeit? […] Immer wieder versucht jede Zeit, den Sinn von Friedrichs Bildern zu begreifen, auch wir – und dann müssen ihn die Augen doch irgendwann ‚zärtlich‘ loslassen, denn erst, wenn der Wille zum Begreifen besiegt ist, erst dann hat man überhaupt eine Chance, Friedrich wirklich zu verstehen.“
Manche Kunstwerke hängen an Museumswänden, um mit gebührendem Abstand bestaunt zu werden – andere kann man ganz profan in Händen halten und darin blättern, und so ein Kunstwerk ist dieses Buch von Florian Illies. Der Großmeister des amüsant-süffisanten Geschichtsrevue-Erzählens widmet sich in ZAUBER DER STILLE dem Maler Caspar David Friedrich, schnurrt sich dabei aber anders als in seinen vorangegangenen Bestsellern nicht chronologisch durch dessen Leben und Zeit, sondern ordnet sein Kaleidoskop aus Fakten, Bezügen und fiktiven Momenten nach den vier Elementen. Dass er dabei mit dem zerstörerischen Feuer beginnt und mit der erhabenen Luft endet, ist sicher kein Zufall:
ZAUBER DER STILLE ist ein Buch, dass uns nach atemlos verschlungenen 244 Seiten mit einem ergriffenen Gefühl von tänzerischer Schwerelosigkeit verabschiedet … und mit einer vor zugewandt vibrierenden Idee, wer Caspar David Friedrich gewesen sein könnte.
Räumen wir zunächst den einzigen Kritikpunkt aus dem Weg: Der S. Fischer-Verlag hat uns zwar ein Lesebändchen spendiert, aber leider darauf verzichtet, den inneren Bildwelten, die Illies vor unseren Augen entstehen lässt, als Servicezuwendung auch Abbildungstafeln zur Seite zu stellen; vier schlecht reproduzierte und eher lieblos vor die Kapitel gestellte Gemälde sind gleichermaßen zu wenig, um uns das beständige Parallel-Googlen zu ersparen, und zu viel, weil sie das Fehlen eines Bildteils schmerzlich unterstreichen. (Oder fällt mir dieses „Manko“ nur auf, weil mein kritischer Verstand nicht der Versuchung erliegen möchte, komplett hemmungslos zu Fanboy-en?)
Bei guten Sachbüchern bietet es sich an, die Verfassenden dafür zu feiern, „den Bogen zu schlagen“ von A nach B und C und D – bei Illies hat man, sowohl insgesamt als auch nun im Besonderen, als Steigerung das Gefühl, er schlägt Räder und purzelbaumt mit großem Vergnügen mal hierhin, mal dorthin. So sind wir in einem Moment bei Friedrich, der sich auf ein Bett wirft, und schließen im nächsten schon Mathilde Marie Auguste Viktorie Leopoldine Karoline Luise Franziska Josepha (aka Prinzessin von Sachsen) ins Herz; wir schauen mit den Augen Illies‘ auf jenen Freiraum, wo vor langer Zeit ein berühmtes Gemälde in einem später weggebombten Gebäude hing, nur um dann wieder bei Friedrich anzukommen in seinem von der Außenwelt abgeriegelten Atelier, wo er Luft malte.
Es ist große Kunst, so leichtfüßig und gehaltvoll durch die Jahrzehnte und -hunderte zu eilen, ohne dabei die Schrecken der Zeit auszuklammern oder abzumildern (vom Feuer vergangener Kriege, das auch viele Werke von Friedrich verschlang, bis zum wider- und gegenwärtigen russischen Angriff auf die Ukraine); ZAUBER DER STILLE führt immer wieder an das Grauen heran, tröstet uns aber schon im nächsten Moment mit Schönheit, Charme und Sätzen, die vielleicht kitschig gelesen werden können, mein Herz aber zum Hüpfen brachten: „Caspar David Friedreich atmet Natur ein, um sie als Kunst wieder auszuatmen.“
Hat Florian Illies mit seinem Buch nun ein besonders würdiges Denkmal errichtet für Caspar David Friedrich – oder uns alle für ihn verdorben? Denn natürlich ist der Blick des Schriftstellers auf den Künstler nicht der eines um größtmögliche Objektivität bemühten Chronisten: Illies schenkt uns SEINEN Blick auf SEINEN Friedrich, der nicht notwendigerweise der reale sein muss (man erlaube mir diese Spielerei: „Florian Illies inhaliert seine umfassende Recherche, um sie als Kunst wieder auszuatmen.“). Das kann ein Schlüssel sein, den zumindest ich brauchte, um dem „Watzmann“ und dem „Eismeer“ etwas abgewinnen zu können … und hat mich trotzdem mit abnehmender Begeisterung durch die „große“ Friedrich-Schau in der Hamburger Kunsthalle flanieren lassen. Der Ausstellung, der Konzeption der Räume, vor allem natürlich den Texten (und manchmal, mon dieu, auch der Kunst) fehlt das tiefe „Hach!“, das man im Buch findet, die schlauen, quecksilbrigen Querverweise und die Emotionalität. Was bleibt – außer dem Appell „Mehr Illies wagen!“ an deutsche Kulturvermittelnde? Neben meiner Begeisterung für einige Bilder und Zeichnungen die Erkenntnis: Illies funktioniert auch ohne Friedrich, Friedrich für mich nach dem Genuss von ZAUBER DER STILLE aber vor allem durch Illies.
Ist das schlimm? Im Sinne einer Wahrheitsfindung vermutlich ja. Aber muss man es mit der Realität immer so genau nehmen? ZAUBER DER STILLE ist nicht nur ein herrliches Lesevergnügen über Kunst und Künstlertum, über das Gestern und das Heute, sondern auch das, was wir alle in immer graueren Zeiten brauchen können – ein Trostbuch auf höchstem Niveau, warm wie eine Umarmung und von der Gewissheit getragen, dass es in Welt & Wahrnehmung immer Schönheit gab, gibt und geben wird.
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Ich habe dieses Buch von einer Freundin geschenkt bekommen, die beim Verlag arbeitet; es handelt sich bei dieser Rezension trotzdem nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung, sondern sie gibt lediglich meine Meinung wieder.
Florian Illies: ZAUBER DER STILLE – Caspar David Friedrichs Reise durch die Zeiten. S. Fischer Verlag, 2023
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