Selbstfindung, Rassismus, Homophobie – und das ist noch lange nicht alles …
„Weißt du, welche Rolle ich in deinem Leben spiele, Kip? Ich sag’s dir. Ich bin eine Nebenfigur in deinem Roman, die nur dazu da ist, die klägliche Entwicklung des Protagonisten zu illuminieren. Das ist alles. Habe ich einen eigenen Spannungsbogen? Nein, natürlich nicht. Es ist Kips Geschichte. Es geht nur um ihn! Den langen Leidensweg des Schriftstellers, dessen Geschichte gehört werden muss, damit die Welt sich weiterdreht.“
Drei Wochen bleiben Kipling Starling, einem in New York lebenden schwulen Briten mit karibischen Wurzeln, um seinen Traum vom Buchvertrag zu erfüllen – denn nachdem sein Debüt nur Absagen bekommen hat, gibt eine Verlagslegende ihm den entscheidenden Tipp: Er soll die Perspektive seines Romans über die erste große Liebe des Schriftstellers E.M. Forster ändern und sie aus der Sicht des ägyptischen Straßenbahnschaffners Mohammed El Adl erzählen. Kip macht sich an die Arbeit, kommt aber schnell an seine Grenzen – nur um dann alle zu durchbrechen …
Der amerikanische Psychotherapeut und (Theater-)Autor David Santos Donaldson hat mit GRÖNLAND einen vielschichtigen, in Teilen höchst gelungenen Roman geschrieben über Selbstfindung, Rassismus und Homophobie im Gestern und Heute; hier wirbeln Spiritualität, das Abschmelzen des Polareises und die soziokulturelle Bedeutung von Idris Elba durcheinander, während die Grenze zwischen (göttlichen) Erscheinungen und (manischen) Trugbildern nie klar definiert wird. Das ist ambitioniert, somit bewundernswert … verschwurbelt sich aber zunehmend in einer überladenen Opernhaftigkeit. Viele Lesende werden dies – vielleicht zurecht – als intensive literarische Erfahrung schätzen, mich Leser von geringem Verstand hat es unbefriedigt zurückgelassen.
Kips Erfahrungen mit „alltäglichem“ Rassismus – der sich nicht nur von Weißen, sondern auch von Schwarzen gegen ihn richtet – machen betroffen, gerade auch, weil er ihn überall zu finden scheint; die Verwischung zwischen der Opfer- und der Täter- bzw. Anklägerrolle habe ich als faszinierend empfunden, zumal ich immer wieder innehalten musste, um meinen eigenen Eindruck, meine eigene Position zu hinterfragen. Auch die spirituelle Ebene des Romans hat mich anfänglich überzeugt: Hat der historische Mohammed tatsächlich die Grenzen von Raum und Zeit überwunden, um zu seinem „erträumten zukünftigen Ich“ zu sprechen, oder hat Kip sich so ins Schreiben vertieft, dass es keine Trennung mehr geben kann zwischen ihm und seiner Interpretation dessen, was vor 100 Jahren geschehen ist …?
Überhaupt, wie weit darf man Kip als Erzähler glauben? Er ist eine ambivalente Figur, gerade auch in der Auseinandersetzung mit seinem Mann und seiner besten Freundin. Und es kratzt und beißt ihn zwar sehr, dass Menschen ihm ein Klischee überstülpen wollen – zum Beispiel das des „wilden Mandigo mit großem Schwanz“ –, aber gleichzeitig sehnt er sich danach, so gesehen zu werden als Bestätigung eines patriarchalen Männlichkeitsideals, mit dem er seinen schwulen Selbsthass in Schach halten könnte.
Alles spiegelt sich hier in allem, und wenn zu Beginn noch mit humorvollem Ton erwähnt wird, dass „noch kein Verleger dazu bereit [ist], mir diese Selbstwahrnehmung [als Schriftsteller] zu bestätigen“, hat dies im letzten Drittel des Buchs einen ganz anderen Klang, wenn die Frage im Raum steht, ob ein Schwarzer Mann sich als schwul identifizieren kann oder darf, während ihm die allgegenwärtige Unterdrückung doch jede konkrete Form der Selbstdefinition zu versagen scheint. Es gibt viele solche starken Momente im Buch – weswegen es umso bedauerlicher ist, dass David Santos Donaldson zunehmend mit dem Holzhammer arbeitet, um Parallelen zu konstruieren, oder sich für die Begegnung mit dem Göttlichen etwas zu offensichtlich bei ANGELS IN AMERICA bedient … Schließlich greift er (und das geht für mich gar nicht) zum billigen Stilmittel des wahnhaften und dabei doch sehr konkreten Traums, nur um dann im dramatischen Finale auch noch Geburt, Tod und Auferstehung (begleitet von einer stets abbrechenden Handyverbindung) zum finalen Donnerschlag zu verquicken.
Während mir der schwarze – beziehungsweise lavaglühende – Ganymed auf dem Umschlag zunehmend gefiel, hat sich meine anfängliche Begeisterung für den Roman leider abgekühlt; überzeugt hat mich dagegen die fließende Übersetzung von Joachim Batholomae, die ohne Stolpersteine durch die 403 Seiten fliegen lässt. Innehalten musste ich im ansonsten sehr schwafeligen Nachwort bei der kurzen Erwähnung, dass David Santos Donaldson sich bei den historischen Fakten Freiheiten genommen hat: Natürlich darf er dies, es ist ein Roman, keine Biografie, aber wenn man eine eher unbekannte Figur der Geschichte wie Mohammed El Adl instrumentalisiert, sollte – oder könnte – es eine Frage des Respekts sein, darauf etwas konkreter einzugehen. (Interessant finde ich auch, dass der Autor das im Text nebenbei erwähnte Theaterstück THE INHERITANCE von Matthew Lopez nicht noch einmal aufgreift, denn ich kann mir kaum vorstellen, dass es keine Inspiration dargestellt hat.)
Und wie binde ich das alles nun ab? Vielleicht so: GRÖNLAND ist ein Roman, das ich nicht noch einmal lesen würde – aber wirklich sehr froh bin, es gelesen zu haben.
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Ich habe dieses Buch selbst gekauft; es handelt sich bei dieser Rezension also nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung, sondern sie gibt lediglich meine Meinung wieder.
David Santos Donaldson: GRÖNLAND. Aus dem Englischen von Joachim Bartholomae. Albino Verlag, 2023
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