Wie Mary Renault diese Geschichte wohl heute erzählt würde?
„Das Ganze wäre noch einigermaßen endschuldbar gewesen, wenn man beim Lesen wenigsten Tränen hätte vergießen können, befand Elsie empört. Man sollte in der Literatur gesagt bekommen, was man (wann) zu fühlen hatte, man sollte sich behutsam in ein vorgewärmtes Emotionsnest hineingleiten lassen können und nicht selbst die Verantwortung für sein Fühlen übernehmen müssen, nicht sich mit verstörenden, beängstigenden Fragen konfrontiert sehen und sich schämen, weil man sich diese Fragen gar nicht stellen wollte.“
FREUNDLICHE JUNGE DAMEN: Das sind Elsie, eine 17-jährige Landpomeranze, die aus ihrem engen, von Streit geprägten Elternhaus wegläuft und Unterschlupf bei ihrer unkonventionellen Schwester Joe findet, die gemeinsam mit der stets von einem eleganten Knistern umgebenen Helen auf einem Hausboot lebt (und das Bett mutmaßlich nicht nur zum Schlafen teilt). Elsie, bis an die Grenze zur Karikatur einfältig, träumt von Peter, einem jungen Arzt – aber hat er echtes Interesse an ihr, oder vielleicht doch eher an den beiden anderen Frauen … oder nur an sich? Und dann gibt es da noch Leo, der in Sichtweite des Hausboots auf einer kleinen Themse-Insel lebt, handfest im Auftreten, liebenswert im Wesen, der beste Freund, den sich die zumeist hemdsärmelige Joe vorstellen kann. Oder wünschen sich beide möglicherweise etwas anderes voneinander?
Der zweite Roman der britischen Autorin Mary Renault, die in Deutschland bisher – wenn überhaupt – für ihre historischen Antike-Abenteuer bekannt war, ist in England bereits 1944 erschienen; die deutsche Übersetzung von Gertrud Wittich wurde 2023 in der von Nicole Seifert und Magda Birkmann herausgegebenen Reihe rororo Entdeckungen veröffentlicht. Es ist ein Buch der Gegensätze: Zum einen ist es gut gealtert, man kann sich herrlich in die Geschichte fallen lassen. Zum anderen ist es über die sympathische Nostalgie hinaus dann aber doch auch antiquiert, weil zwischendurch doch zu stark gebangt und gehangt wird und es eine Figur wie Elsie so heute vermutlich nicht mehr geben würde – interessant ist in diesem Zusammenhang, dass ein zeitgenössischer Kritiker der Meinung war, sie wäre hervorragend gelungen (was vermutlich mehr über seine Misogynie sagt als über den Text), ganz im Gegensatz zu den erwachsenen Figuren.
Dabei sind Leo und Helen faszinierende, weil in ihrer Zeit verankerte und trotzdem sehr moderne Charaktere: Sie setzen sich über Grenzen hinweg, die Frauen damals gesetzt wurden, dringen souverän in „männliche“ Gefilde vor und bedienen sich an deren Verhaltensweisen, und sie leben noch dazu glücklich in erfrischend uneindeutigen Umständen. Sind die beiden lesbisch, bi- oder pansexuell (ich vermeide hier den von mir weder geschätzten noch reklamierten Begriff „queer“), haben sie eine offene Beziehung oder sind sie einander in inniger, von Zärtlichkeit geprägter Freundschaft verbunden, in der klassische Bindungsmuster keine Bedeutung haben?
Acht Jahre trennten Mary Renault und die in Deutschland seit einigen Jahren wieder populäre Barbara Pym, deren Bücher ich ebenfalls mit Vergnügen gelesen habe … und die polierter sind als FREUNDLICHE JUNGE DAMEN. Pym behandelt ihre Figuren mit sympathisierendem Spott, den ich bei Renault nicht herauslesen konnte, nicht bei Elsie, vielleicht in Ansätzen bei Peter, diesem selbstgefälligen Möchtegern, der sich in der Rolle des psychologisch versierten Frauenverstehers gefällt, ohne zu merken, dass er jenseits seiner wehrlosen Patientinnen maximal Mittel zum Zweck ist.
Pym konnte ihre pointierten und amüsierten Gesellschaftsbeobachtungen aus der komfortablen Position heraus schreiben, selbst zur Mehrheit zu gehören (so wie Lillian Hellman in den 1930er Jahren als heterosexuelle Frau mit dem skandalösen Theaterstück THE CHILDRENS HOUR erfolgreich sein konnte, das 1961 unter dem Titel INFAM mit Shirley McLaine und Audrey Hepburn verfilmt wurde), während Renault, so ließe sich vermuten, ein Leben lang Zaungast blieb. War es ihr eigener Wunsch, die Beziehung zwischen Leo und Helen – trotz offensichtlicher Klarheit – vage zu halten, war es die Voraussetzung, veröffentlicht zu werden … oder irgendetwas dazwischen?
Zugegeben, das Ende des Romans kann als unbefriedigend verstanden werden; die Autorin bezeichnete es später als „silly“. Mir war es definitiv zu einfach, gleichzeitig aber fasziniert es mich: Indem Mary Renault ihre Leo in den vermeintlich sicheren Hafen der Heterosexualität einlaufen lässt, erfüllt sie die einengende Anforderung der 1940er Jahre … fasst für mich aus heutiger Sicht aber gleichzeitig den Rahmen dessen, was zwischen Menschen möglich ist, weiter. Leo entscheidet sich nicht für Joe, weil er einen Penis hat oder das Leben an seiner Seite einfacher sein wird als die Beziehung mit Helen; sie entscheidet sich fluide, weil er – zumindest für den Moment – die Antwort sein könnte auf die Frage, die sie sich selbst nicht stellt. Und das auf emotionaler, nicht sexueller Basis.
FREUNDLICHE JUNGE DAMEN ist eine Entdeckung, die lohnt – und auch, wenn sich der Verlag meiner Meinung nach keinen Gefallen mit der Covergestaltung getan hat (die als Teil einer auf Variation angelegten Reihenoptik funktioniert, für sich genommen aber wenig einladend wirkt), weiß ich die Ausstattung mit dem griffigen, unkaschierten Einbandkarton und die Klappen zu schätzen. Applaus verdient außerdem das informative und schwungvolle Nachwort von Nicole Seifert.
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Ich habe dieses Buch selbst gekauft; es handelt sich bei dieser Rezension also nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung, sondern sie gibt lediglich meine Meinung wieder.
Mary Renault: FREUNDLICHE JUNGE DAMEN. Aus dem Englischen von Gertrud Wittich. Rowohlt Taschenbuch Verlag, 2023
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