Ein kurzer Roman, den man so schnell nicht vergessen wird
„Woher sie kamen? Schwer zu sagen. Vermutlich hatten sie ihrer Jugend zum Trotz mindestens einen Schicksalsschlag erlebt, wenn nicht mehrere. Darauf lässt ihre Exaltiertheit schließen: ein Übermaß an Freude, an Kummer, eine merkwürdige Inbrunst, zu viel Appetit, zu viel Schweigen. Das Vorleben der Gouvernanten barg offenkundig ein Geheimnis.“
Inès, der das Parlieren so leicht fällt, Éléonore, die gekonnt die Peitsche schwingt, und Laura, der etwas überaus Unerwartetes widerfahren wird: Sie sind die Gouvernanten, die im Haus des Ehepaars Austeur leben, inmitten eines verschwenderischen Parks, wo sie die Kinder eher sich selbst überlassen; stattdessen lustwandeln sie, posieren mal keusch und mal aufreizend für den greisen Mann, der sie aus dem Nachbarshaus mit einem Fernglas beobachtet, und gehen auf die Jagd – dann, wenn sie in ihre gelben Kleider schlüpfen, die zuverlässig das Wilde, Gierige in ihnen wecken, und sich fremde Männern mit kaum stillbaren Verlangen nehmen …
DIE GOUVERNANTEN von Anne Serre ist ein Geschenk für alle Lesenden, die das Besondere lieben, eine poetische, sommerleichte und möglicherweise auch herbstmelancholische Geschichte, die sich wie eine surreale Blüte vor unseren staunenden Augen öffnet und dazu einlädt, jedes Kapitel – ach was, jeden Absatz! – direkt noch einmal zu genießen. 92 Seiten pures Vergnügen, wenn man Geschmack findet an diesem Sorbet, das erfrischt, aber hinter seiner kühlen Süße auch Feuer und Bitternoten verbirgt … und viel Raum lässt für die eigene Interpretation. Da meine nun folgt (also: SPOILER!), mögen alle, die diesen schön gestalteten Band nicht kennen, bitte erst zur nächstgelegenen Buchverkaufsstelle eilen, um ihn zu kaufen und zu verschlingen.
Anne Serres Text entzieht sich auf faszinierende – ich bin geneigt zu sagen: köstliche! – Art der allzu konkreten Einordnung: So kann man ahnen, dass die Geschichte im Frankreich der Belle Époque spielt, doch das bleibt ebenso offen wie die Herkunft der Gouvernanten oder der Kinder, die sie hüten; an anderer Stelle las ich, dass mit der Berufsbezeichnung auf englische Gothic Novels angespielt werden könnte, und auch das böte sich als Inspiration an.
Unverkennbar sind die Frauen aber Serres Interpretation der drei Grazien aus der römischen Mythologie bzw. der drei Chariten der griechischen, die Menschen und Götter nicht nur durch Schönheit und Anmut erfreuten, sondern ihnen auch die Festesfreude schenkten – so beginnt das Buch auch mit den Vorbereitungen eines rauschhaften Festes, und wenn die drei Frauen sich dem erregten Blick des Nachbarn offenbaren, nehmen sie jene Posen ein, die unzählige Künstler wie Botticelli und Raffael zu ihren Kunstwerken inspirierten. Die französische Autorin verleiht ihren Figuren darüber hinaus Charakteristika von Nymphen wie jenen, die an der Seite der Artemis auf die Jagd gingen … und schenkt ihnen eine schamlose Wollust, von der die jungfräuliche Göttin nicht einmal zu träumen wagte.
Aber was genau erleben wir hier mit – und wie dürfen wir das Ende des Buchs verstehen? Ich denke, dass wir Zeugen einer Zeitenwende werden: Lange hat der schöpferische Geist der Menschen Götter zum Leben erweckt, nicht nur, um sich die Welt zu erklären, sondern auch, um sich an diesen Mythen zu berauschen und erfreuen; diese Zeit ist nun vergangen. Während die Gouvernanten durch den noch immer zugewandten Blick des greisen Nachbarn üppig und saftig im Fleische stehen, wandeln sie sich unter der nicht unbarmherzigen, aber für diese alten Wunder nicht mehr empfänglichen Perspektive anderer – so finden sich die drei gerade noch verführerischen Frauen bei einer Hochzeit auf dem Nachbargrundstück ihrer Reize beraubt, so wie wir modernen Menschen heute nur noch mit Unverständnis auf viele alten Mythen blicken … und zum Beispiel die angeblich so weise Athene für eine entsetzlich dumme Pute halten können (sehr zu empfehlen in diesem Zusammenhang: MYTHOS von Stephen Fry, der frischen Wind in die antike Grausamkeitsparade bläst). So wie Madeline Miller mit einer heiligen Ernsthaftigkeit Circe zur feministischen Figur modernisiert, erzählt Anne Serre mit einem eigenen petit quelque chose vom Abgesang auf diese Geschichten … für immer?
In einigen Rezensionen wurde der greise Nachbar als Voyeur und als eher negative Figur gesehen; ich empfinde ihn nicht so, ganz im Gegenteil. (Wie das so ist mit Träumen und Fantasien: Wer mit wem spielt, wer hier wen kontrolliert, ist manchmal nicht ganz klar …) Für mich steht der Alte für eine Zeit, in der Wunder noch möglich waren, weil man daran glauben wollte – und indem er sich nun von diesen abwendet und seinen fortan nüchternen Blick auf öde Pflanzen und Tiere lenkt, auf das Reale jenseits von Technicolor, verwehrt er sich das Geschenk des Zauberhaften und Berauschenden. Aber vielleicht ist das auch die leise Botschaft am Ende: So schnell, wie das Haus der Austeurs seine Wände verliert, die „verlorenen Jungs“ (um hier noch einmal eine ganz andere Tür aufzustoßen) durcheinanderwirbeln und Laura als Eidechse davonläuft, kann das alles auch wieder zu alter Pracht zurückkehren, wenn wir gewillt sind, der Realität und Moderne hin und wieder den Rücken zu kehren.
Ein kleines, großartiges Buch, das den Duft eines sonnengereiften Pfirsichs verströmt und gleichzeitig die Eleganz manchen Blumen beim Verblühen zeigt, herrlich schwingend übersetzt von Patricia Klobusiczky – kaufen, lesen, verschenken, FEIERN!
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Ich habe dieses Buch selbst gekauft; es handelt sich bei dieser Rezension also nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung, sondern sie gibt lediglich meine Meinung wieder.
Anne Serre: DIE GOUVERNANTEN. Aus dem Französischen von Patricia Klobusicsky. Berenberg Verlag, 2023
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