Hat dieser Roman vielleicht sogar das Zeug zum Jahreshighlight?

„Bei Moreau und Krafft-Ebing wird, vereinfacht gesagt, das Phänomen der sexuellen Inversion für gewöhnlich als psychopathische oder neuropathische Störung betrachtet, von morbiden Vorfahren vererbt und bei den Patienten durch früh angewöhnte Selbstbefleckung ausgebildet. Diese Autoritäten machen Invertierte nicht mehr für ihre Beschaffenheit verantwortlich. Ihrer Meinung nach ist hier eher der Arzt gefragt als der Richter, Therapie statt Strafe. Und hierzu ist einiges zu sagen. Am naheliegendsten ist die Tatsache, dass viele Invertierte sich guter körperlicher Gesundheit erfreuen und, abgesehen von ihrer Abnormität, auch im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte sind.“

London, 1994: Das viktorianische England, geprägt durch jene Form von Moral und Anstand, die einem Erstickungstod nahe kommt, neigt sich seinem Ende zu, als zwei Männer ein gewagtes Unterfangen beschließen – sie verfassen ein Buch über die Normalität der „sexuelle Inversion“, also (männliche) Homosexualität, die damals höchst tabuisiert war und mit drakonischen Strafen geahndet wurde.

Für den jungen Intellektuellen Henry Ellis, der gerade die ebenso schlaue wie spröde Agnes geheiratet hat, ist dies vordergründig eine intellektuelle Herausforderung, denn er ist Verfechter des „Neuen Lebens“, einer Salon-Bewegung, die mit dem Althergebrachten brechen will; für den wohlsituierten Mittfünfziger John Addington hingegen könnte es ein Befreiungsschlag sein, denn der Vater von drei Töchtern hat seine Frau nie begehrt und ist stattdessen gerade in Liebe zum alles andere als standesgemäßen Frank entbrannt. Aber werden die beiden Idealisten etwas bewegen … oder riskieren sie zu viel in einer Zeit, in der ein gewisser Oscar Wilde gerade den Fehler seines Lebens begeht?

DAS NEUE LEBEN beginnt mit einer erotischen Fantasie, auf die sofort eine alltagsgraue Ernüchterung folgt; beides setzt den Ton für diesen historischen, dabei aber zeitlosen Roman, in dem die Hoffnung auf Verständnis und Veränderung immer wieder von einem starren, konservativen Weltbild zermalmt wird. Eine der Stärken des Debüts von Tom Crewe ist es daher auch, uns 439 Seiten lang vortrefflich in eine Zeit zu entführt, die wir hinter uns gelassen zu haben meinen … und uns gleichzeitig die Frage zu stellen, ob diese wirklich so weit von unserer entfernt ist, wenn Homophobie – so wie auch Antisemitismus und andere (Fremden-)Feindlichkeiten – maximal schlummert, um jederzeit mit neuer Energie ihr widerwärtiges Haupt erheben zu können.

Wollte man Kritik an dem von Frank Heibert übersetzten Roman üben, dann ließe sich neben dem anfänglich zwar sehr bewusst, aber vielleicht doch etwas intensiv gesetzten Spermaschlicks anführen, dass der Text an manchen Stellen durchaus overwritten zu sein scheint – andererseits war dies für mich genau die richtige Fahrkarte in eine Zeit und Lebenswelt, die ansonsten nur elegant-unauffällig durch kleine Beschreibungen charakterisiert wird.

Viel wichtiger aber: DAS NEUE LEBEN überzeugt neben der Handlung (und ab einem gewissen Punkt der großen Sorge, wie das alles ausgehen wird) durch seine hervorragend gezeichneten Figuren. Da sind natürlich John, in dem plötzlich alle Dämme zu brechen drohen, und Henry, den ich mir zu Beginn ganz anders vorstellte, als er schließlich war, aber auch Edith (über die man sich sofort einen eigenen Roman wünschen würde) und die stiff upper lipige Catherine, sowie viele Nebenfiguren, die möglicherweise nur für die Statik der Geschichte sorgen sollen, mir aber trotz ihrer kurzen Auftritte sehr nah gekommen sind. Und sollte es irgendwo auf der Welt einen Preis für die beste Nebelszene geben, Crewe hätte ihn verdient für diesen kurzen Moment des Glücks!

Abgesehen davon, dass ich hingerissen bin vom Schutzumschlagmotiv des Buchs, komme ich auch aufgrund der Jahreszeit (ich schreibe diese Zeilen Anfang November) nicht umhin, mir die Frage zu stellen, ob ich Tom Crewes schlaues, eindringliches und trotz großer Gefühle gänzlich unkitschiges, eher zur emotionalen Kühle neigendes Buch zu meinen Jahreshighlights zählen werde. Vielleicht nicht: Es gab 2023 Romane, die mich noch ein bisschen mehr gepackt, gerüttelt oder umarmt haben. Trotzdem freue ich mich sehr, ihn gelesen zu haben. Das hat viel zu tun mit dem fiktiven einzelnen Leser, der in DAS NEUE LEBEN für die sich anbahnende Katastrophe sorgt, weil er mutmaßlich versuchen muss, jenseits der Heteronormativität Halt und Trost zu finden; diese Menschen gab und gibt es im 19., im 20. und 21. Jahrhundert. Für sie – und auch immer noch für mich – ist Sichtbarkeit ein hohes Gut … und genau das, was man in Zeiten zwischen Abenddämmerung und Morgenrot braucht.

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Ich habe dieses Buch selbst gekauft; es handelt sich bei dieser Rezension also nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung, sondern sie gibt lediglich meine Meinung wieder.

Tom Crewe: DAS NEUE LEBEN. Aus dem Englischen von Frank Heibert. Insel Verlag, 2023