Der Kjona-Verlag bringt mit einer Autorin im Rentenalter frischen Wind ins Bücherjahr
„Mir gehört heute nichts, außer meinem Körper und meinem Geist, nehme ich an, so wie sie nach den vielen Jahrzehnten des Gebrauchs nun eben sind. Schlechten Gebrauchs mitunter. Aber immerhin wurden sie gebraucht, vergeudet habe ich sie nicht, Gott sei Dank. […] Das Alter wird oft als eine Phase der Kumulation dargestellt, der Anhäufungen von Krankheiten, Beschwerden, Falten, aber in Wirklichkeit ist es ein Prozess der Enteignung. Freiheit, Respekt, Lust, all das, was man früher so selbstverständlich besessen und genossen hat, wird einem nach und nach genommen.“
Die 13 gilt vielen als Unglückzahl, in diesem Fall ist sie aber ein Glücksfall für Lesende – denn die dreizehn in KLEINE KRATZER gesammelten Geschichten sind ein Vergnügen von besonderer Eleganz. Jane Campbell erzählt von Frauen, die im Herbst ihres Lebens zwar die Verfärbung des Laubs hinnehmen, aber nicht leise in den letzten Winterschlaf sinken wollen. Sie lieben, sie verzweifeln, sie morden, trauern, wollen sich streicheln lassen und begehren – sowohl Männer als auch auf. „Diese Zitrone hat noch viel Saft“ nannte Lotti Huber vor vielen Jahren ihren Lebensrückblick, und das gilt auch für Daisy, Martha, Susan, Linda und die anderen Frauen, die im Rückseitentext des Buchs als Heldinnen benannt werden und dies – vielleicht, ganz bestimmt? – auch über das Synonym für Hauptfigur hinaus sind.
Manche der von Bettina Abarbanell fließend übersetzten Texte wollte ich sofort noch einmal lesen, um sie intensiver zu genießen, andere musste ich mir ein zweites Mal vornehmen, um meine widersprüchlichen Gedanken zu ordnen. Man kann unter der Ruppigkeit mancher Charaktere Zartes entdecken, kleine Siege bejubeln, man fiebert mit („Nein, bitte nicht, sie soll auf keinen Fall jetzt und allein sterben!“) und ist immer wieder eingeladen, eigenen Gedanken nachzuhängen – welche „Lockdown-Phantasmen“ würden uns eine herbeigesehnte Hand auf die Schulter legen, auf welcher Beerdigung sollten wir uns unerwartet wiederfinden, und was gäbe es für uns alles in einem Holzschnitt zu sehen, das dort nie eingeschnitzt wurde? „Der Kiskadee“ kann uns unangenehm berühren und so wie „183 Minuten“ am Ende wütend zurücklassen; in „Susan und Miffy“ hätte sich die Autorin etwas mehr Zeit für die Annäherung ihrer Protagonistinnen lassen können, „Lacrimae Rerum“ ist so frech überkonstruiert, dass es erstaunlich ist, dass dieser Text trotzdem zu meinen liebsten gehört, und in „Vom Alleinsein“ schließlich läuft Campbell zur Form von Elizabeth Strout auf. Also: für mich.
In ihrem von mir geschätzten Podcast ZWEI SEITEN hat Mona Ameziane angemerkt, dass sie sich zu vielen dieser Ideen statt den wenige Seiten umfassenden Geschichten ganze Romane gewünscht hätte – dem möchte ich Leser von geringem Verstand höflich widersprechen: Jane Campbell lenkt unseren Blick, sie öffnet Türen, aber bei ihr braucht man keine Hausführung, um einen wunderbaren Besuch erlebt zu haben. Mich hat KLEINE KRATZER gerade in der kurzen Form und trotz der Allgegenwärtigkeit von Verfall und Tod durch das Aufbegehren, das Kämpferische, das Pulsierende begeistert und noch dazu sehr gut unterhalten – Applaus für die Autorin und für die sexy Nachhaltigkeits-Schnuckis vom Kjona-Verlag, die mehr verlegerischen Mut bewiesen haben als die großen Verlage, denen das Buch auch hervorragend zu Gesicht gestanden hätten.
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Ich habe dieses Buch selbst gekauft; es handelt sich bei dieser Rezension also nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung, sondern sie gibt lediglich meine Meinung wieder.
Jane Campbell: KLEINE KRATZER. Aus dem Englischen von Bettina Abarbanell. Kjona Verlag, 2023
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