Im literarischen Klassiker STILÜBUNGEN spielt Raymond Queneau mit Sprache, Inhalt und Spielregeln der Verfremdung: ein Vergnügen!
„Psst! Äh! Ah! Oh! Hm! Ah! Uff! Ey! Na! Oh! Phh! Boah! Ui! Hu! Au! Ey! He! Äh! Pfft! – Na! Ey! Phh! Oh! Äh! So!“
Das Leben schreibt nicht immer die besten Geschichten, aber ein kreativer Kopf kann aus einer banalen Momentaufnahme ein Ereignis machen – ein vielfältiges, literarisches und vergnügliches. Und so veröffentlichte der französische Verlagslektor und Schriftsteller Raymond Queneau (1903–1976) 1947 sein Buch STILÜBUNGEN, das auf einer belanglosen Alltagsbeobachtung beruht: Ein Erzähler, von dem offen bleibt, um wen es sich handelt, beobachtet in einem Bus, wie ein junger Mann mit langem Hals und einem Hut, der modisch verwegen nicht mit einem Band, sondern einer Kordel geschmückt ist, sich von einem anderen Fahrgast belästigt fühlt, bevor er einen Sitzplatz findet; wenig später sieht man ihn, wie er sich auf der Straße mit einem Freund unterhält. So weit, so wenig aufregend.
Raymond Queneau, der in den 1920er Jahren zu den Surrealisten um André Breton gehörte und in den 1960 Jahren den Autorenkreis Oulipo begründet (die Abkürzung von L‘Ouvroir de Littérature Potentielle, zu Deutsch: Werkstatt für potentielle Literatur), nimmt diesen kurzen Text und beginnt, mit ihm zu experimentieren: Wie klingt das Alltägliche, wenn es als Rückseitentext für einen Bestseller umgeschrieben werden soll? Wenn es besonders schwülstig oder ordinär erzählt wird? Kann man aus ihm einen Tanka machen, also ein reimloses japanisches Gedicht, oder eine Science-Fiction-Geschichte? Wer sagt überhaupt, dass die erzählende Person ein Mann sein sollte – der junge Protagonist könnte doch auch eine Gurke sein oder eine Giraffe, die sich kurz darauf in ein Hühnchen verwandelt. Spannend könnte auch sein, wenn man plötzlich mit dem Ende anfängt … oder einfach eine Spielanleitung daraus macht.
Raymond Queneau spielt in STILÜBUNGEN Pingpong mit allem, was buchstabenbasiert ist
Aber nicht nur die Geschichte wird dekonstruiert und umgedeutet, auch die Sprache selbst wird zum Spielball: Raymond Queneau wendet verschiedene Prinzipien an, bei denen zum Beispiel Buchstaben ausgelassen werden (Lipogramm) oder Laute an Wortenden angefügt (Paragogen); für ähnliche Verwirrung sorgt die Umstellung von Lauten innerhalb eines Wortes (Metathesen). Und dann wir’s richtig wild: Bei der „Permutation“ des Textes wird ebendieser in Gruppen zu neun, zehn, elf und zwölf Buchstaben umgearbeitet, worüber die beiden Übersetzer im Anhang schreiben: „Die jeweiligen Gruppen werden von Queneau noch unterteilt, das mindert das ‚Risiko‘, es könnten allzu leichte Sinnzusammenhänge erkennbar sein.“
Ganz abgesehen davon, dass der Autor sein Buch – dieses schon ab der zweiten Stilübung auf herrliche Art mindfuckende Kaleidoskop – natürlich auf Französisch geschrieben hat, sind die STILÜBUNGEN für uns Deutschlesende auch deswegen nicht ohne die beiden Übersetzer Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel denkbar, weil sie weit mehr getan haben, als den Text zu übertragen – um es in ihren eigenen Worten zu sagen:
„Man kann nicht einfach die Übung ‚Textbestandteile‘ / ‚Parties du discours‘ übersetzen, sondern muss die deutsche Fassung der zugrunde liegende Übung ‚Bericht‘ zerlegen, was natürlich zu anderen Wörtern inklusive Flexionen führt. Ein schönes Beispiel dafür, dass Übersetzen nicht abschreiben, sondern nachschreiben ist.“
Da ist es folgerichtig, dass die beiden dem Buch am Ende auch 13 eigene Interpretationen des Ausgangstextes anfügen, die der Autor in seiner Liste „Mögliche Stilübungen“ vorgeschlagen, aber nicht selbst geschrieben hat.
Ist STILÜBUNGEN von Raymond Queneau nur etwas für literarisch Gebildete? Nö!
„Sgege nMit ei nesT age teichaufd tagbemerk nPlat tfor er hintere obu sseLi meinesAut nene herju nie er Sei it zulange ng enMannm inenmitei mHalsde re htene nKor ne rgef loc“ – und so weiter: Natürlich sind diverse Stilübungen nicht mehr lesbar, und das müssen sie auch gar nicht sein; Raymond Queneau negiert damit vergnügt den Zweck von Sprache als Kommunikationsmittel. Aber keine Sorge: Der Großteil der Stilübungen ist gut lesbar, wenn die Geschichte zum Beispiel in einem Dialekt erzählt wird, aus Verneinungen besteht, sich hemmungslos der Alliteration hingibt oder aus dem jungen Mann im Bus eine Sardine im Meer macht. Und die Texte, die Raymond Queneau nach dem von ihm festgelegten Spielregeln dekonstruiert hat? Sind zwar Kauderwelsch … aber fordern natürlich trotzdem dazu heraus, den Versuch zu wagen, das Gedruckte zu entschlüsseln. Wenn man’s dann nach zwei Zeilen aufgibt? Ist’s trotzdem lustig! (Kleiner Tipp, den ich mir vom Verlag als Hinweis vorne im Buch gewünscht hätte: Im Anhang erklären die Übersetzer die meisten der Spielregeln, sodass es sich anbietet, dies parallel zu lesen.)
Und warum das alles? An einigen Stellen wird der Mann im Bus als Zazou bezeichnet: So wurden in den 1940er Jahren junge Menschen genannt, die durch ihre an britische und amerikanische Mode angelehnte Kleidung ihre Liebe zum Jazz zur Schau stellten, was im Frankreich der deutschen Besatzung und des Vichy-Regimes aber natürlich auch eine politische Dimension hatte. Und so kann man STILÜBUNGEN als Spiel mit Sprache einordnen – aber auch, wie es die Übersetzer in ihrem Nachtwort tun, als einen „respektlosen, übermütigen Akt der Selbstbehauptung, unternommen in totalitären Zeiten.“
Die gesamtbrillante Anja Rützel hat das Buch in einer Ausgabe des Magazins BESTSELLER vorgestellt, das dem SPIGEL beigelegt ist – und schreibt: „Es klingt so banal, aber man vergisst es ja oft: Unsere Wirklichkeit ist immer durch unseren Blick geprägt. Wie wir etwas erzählen, uns selbst oder anderen, verändert die Geschichte, in letzter Konsequenz vielleicht sogar die Bedeutung unseres Lebens.“ In Zeiten, in denen KI-Programme auf Knopfdruck Texte ausspuckt, die je nach Bedarf so wirken, als wären sie von einem Schüler oder Literaturnobelpreisträger geschrieben worden, ist STILÜBUNGEN die Erinnerung daran, was menschliche Kreativität und ein Vergnügen am sprachlichen Querdenken leisten kann … und natürlich auch eine Einladung, es selbst zu probieren. Wir schalten noch einmal zu Anja Rützel: „Bin ich heute Bericht, Beschwerde oder Ballade?“
Raymond Queneaus STILÜBUNG ist seit Ende der 1940er Jahre ein Leseabenteuer – und eins, das noch dazu in den 2020er Jahren flüstert: Fuck you, ChatGPT!
Wie wir die Welt um uns herum wahrnehmen, wie wir uns zum Lachen bringen oder zum Weinen, wie wir uns Held*innentaten attestieren oder eine dramatische Situation, in der wir uns ungewollt wiederfinden, im Nachgang auf Alltagstemperatur abkühlen, das liegt an uns – und ist noch dazu ein Vergnügen. Heißt es nicht immer, Kultur hat in grauer Vorzeit mit Geschichten angefangen, die um Lagerfeuer erzählt wurden? Dann sind diese 216 Seiten ein prallgefülltes Streichholzschächtelchen!
Ganz egal also, ob ihr auf der Suche nach kreativer Inspiration seid oder einfach nur ein Buch für euch entdecken wollt, dass unterhält und irritiert und lange in Erinnerung bleibt: Entdeckt STILÜBUNGEN für euch!
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Ich habe dieses Buch selbst im niedergelassenen und unabhängigen Buchhandel gekauft. Bei meiner Rezension handelt es sich nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung: Sie gibt lediglich meine subjektive und unbeeinflusste Meinung wieder.
Raymond Queneau: STILÜBUNGEN. Aus dem Französischen übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel. Suhrkamp Verlag, 2016.
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