Sehr viel mehr als nur „Maurice“ meets „Im Westen nichts Neues“
„Lieber Gaunt, hier ist es in den letzten Tagen ziemlich heftig zugegangen. Ich habe das Ganze so leid. Vergangene Woche wurde ein Freund von mir in die Luft gesprengt. Ich war als Erster bei ihm. Er lebte noch, gerade so, und hatte noch keine Schmerzen. Ich wollte ihn töten. Kein Pferd und keinen Hund würde man so leiden lassen. Aber ich bin immer noch ein Gentleman, und Gentlemen töten ihre Freunde nicht.“
Es ist schon einige Wochen her, dass ich diesen Roman mit einem leisen „Puhhh …“ zugeklappt habe, und obwohl das Leben nach einem langen, stummen Moment ganz normal weiterging und es andere Bücher gab – Bücher, die mich auch begeistert haben –, ist DURCH DAS GROSSE FEUER noch sehr präsent in … ja, in was: in meiner Erinnerung? Das scheint fast zu eng gefasst. In mir als Mensch, weit über rationale Einordnung hinaus? Nun, wir wollen die Kirche im Dorf lassen. Aber so viel steht fest: Alice Winn hat einen Roman geschaffen, der Faustschlag und Trommelwirbel ist, und definitiv große Worte verdient.
Wollte man DURCH DAS GROSSE FEUER auf eine Catchphrase verkürzen, böte sich „MAURICE meets IM WESTEN NICHTS NEUES“ an, auch wenn dies nur die beiden offensichtlichen Ebenen abdeckt, zu denen sich noch weitere gesellen werden: Winn erzählt von Gaunt und Ellwood, zwei Schülern an einem englischen Eliteinternat, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein privilegiertes und im Rahmen dessen, was die Garstigkeit dieser Zeit und Institution zulässt, unbeschwertes, manieriertes Leben führen … bis sie sich in dem Grauen wiederfinden, den der erste Weltkrieg und seine Schlachtfelder bedeutet. Dementsprechend durchziehen das Buch auch die Gefallenenlisten und Nachrufe in der Schülerzeitung „The Preshutian“, die man überspringen möchte, würde man sich nicht gezwungen sehen, sie mit bangem Herzen nach vertrauten Namen zu durchforsten.
Obwohl Winn nur mit Worten arbeitet – also ohne Soundtrack und die Kakophonie der Gefechte, die in einem Film auf uns einprasseln würden, und ohne schnelle Schnittfolgen, die den Schrecken in Nah- und Panoramaaufnahmen visuell eindringlicher machen –, gelingt es ihr auf ebenso erschreckende wie bewundernswerte Art, das unfassbar Entsetzliche einzufangen; sie gewährt selten die Gunst einer gnädigen Abblende und zieht die Boxhandschuhe auch in den vermeintlich ruhigen Momenten nicht aus. Klingt furchtbar? Ist es auch … und muss es auch. Denn so lässt Winn uns Lesende an der bleiernen Taubheit teilhaben, durch die Granateneinschläge und Todesschreie nicht etwa in die Ferne rücken, sondern der Krieg seine Opfer mit einer stetig fortschreitenden Entmenschlichung niederdrückt.
[Nachfolgend kann mein Text dezente Spoiler enthalten, worauf ich zur Sicherheit hinweisen möchte.]
Alice Winn erzählt von Freundschaften in verschiedenen Schattierungen, von Müttern, die ihre Söhne gedankenlos in den Tod schicken, von der Grausamkeit einer Klassengesellschaft und sogenannten „Befehlshaber“ … und natürlich dem schier unfassbaren Irrsinn, wenn sich Menschen als „Feinde“ gegenübertreten müssen, die zur gleichen Zeit gemeinsam das Glockenspiel auf dem Münchner Rathausplatz bestaunen könnten. (Nebenbei bemerkt: Die grausame Parallelität, mit der sie dieses Element in zwei entscheidenden Szenen einsetzt, lässt mich vor Alice Winn schaudern und ihr gleichzeitig höchst anerkennend zunicken …) Und dann gibt es da plötzlich die Zeit der Kriegsgefangenschaft, in der sich die Klangfarbe ändert und wir uns verdutzt in einem durchaus vergnüglichen Abenteuerroman wiederfinden, der deplatziert wirken könnte, würde die Autorin dadurch nicht einen zentralen Punkt unterstreichen: Dass ein Großteil des menschlichen Kugelfutters kaum dem Kindesalter entwachsen war und die Männer, deren Ausbruchsversuchen wir nach all dem Schrecken fast amüsiert folgen, in dieser absurden Situation relativer Sicherheit endlich für kurze Zeit jung sein dürfen.
„Für eine Kriegsneurose war es auch nicht so schlimm“, heißt es an einer Stelle des 495 Seiten starken und von Ursula Wulfekamp & Benjamin Midner flüssig ins Deutsche übertragenen Romans: „Er stotterte nicht, schrie nicht, weigerte sich nicht zu essen. Er hatte keine großen Erinnerungslücken oder unerklärbare körperliche Schmerzen. Aber Gaunt fragte sich, ob so eine Maschine jemals wieder ein Mensch werden konnte, oder ob die Landschaft von Elwoods Persönlichkeit, so wie die Schlachtfelder in Frankreich, durch den Krieg unwiederbringlich zerstört worden war.“
DURCH DAS GROSSE FEUER dreht sich nicht nur um das Sterben, die Hoffnungslosigkeit und den Wahnsinn, einer Generation posthum das Adjektiv „verlorene“ geben zu müssen, sondern auch um das Weiterleben … und davon, dass das nicht nur durch die Wunden beeinflusst wird, die eine Schlacht hinterlassen kann, sondern auch durch eine kaltherzige Moral, die in Friedenszeiten nahtlos weiter besteht. Wir erinnern uns: Zum IM WESTEN NICHTS NEUES-Donner gesellt sich in diesem Buch eben auch die sehnsuchtsvolle MAURICE-haftigkeit … mit allem, was dazu gehört. (Wollte man dem Roman einen Vorwurf machen, dann könnte man an dieser Stelle übrigens anführen, dass die Autorin auf eine kurze, ungelenke Sexszene besser verzichtet hätte – und dass die Akzeptanz, mit der von einigen Seiten auf Homosexualität geblickt wird, eventuell doch eher einem modernen Wunschdenken als der historischen Realität entspringt; gleichzeitig sei erwähnt, dass ich alter Gewohnheitskritiker bei aller „So wäre es wohl nicht gewesen“-Verdrossenheit dabei doch ein freudig flatterndes Gefühl in der Herzgegend verspürte.)
Man soll ein Buch nicht nach seinem Cover beurteilen, aber obwohl ich vor den Gestalterinnen vom Favoritbuero schon aus Prinzip jeden verfügbaren Hut ziehe, empfinde ich den Schutzumschlag als weniger gelungen: Obwohl das Motiv von Anna Teasdale natürlich hübsch anzusehen ist, verwässert es den epischen Atem des großartig gewählten Titels DURCH DAS GROSSE FEUER zu einer gewissen Coffeetable-haftigkeit … aber nun, und aber ja: Vermutlich muss dieses Buch sich so gefällig präsentieren, um den Weg zu Lesenden zu finden? Mögen es viele, viele, viele sein, denn dem Team des Eisele-Verlags gebührt Respekt und Anerkennung, diesem mitreißend erzählten und barrierefrei literarischen Antikriegmanifest – das trotz möglicherweise unkommerzieller Themen höchst breitenwirksam ist – in Deutschland eine Bühne zu geben.
Zu den vielen Gründen, warum mir dieser Roman noch lange in Erinnerung bleiben wird, gehört neben der immer wieder schaudernden und von inneren Wehklagen unterbrochenen Begeisterung für die Fiktion aber auch ein schrecklicher Gedanke: Die Männer, die den ersten Weltkrieg überlebt haben, sind die Väter der jungen Menschen, die im zweiten Weltkrieg geopfert wurden. Und würden wir noch so gerne zur seelischen Entlastung mit tränenfeuchten Augen in Richtung Himmel schauen und „Nie wieder“ flüstern, so kommen wir natürlich nicht umhin, an das Monstrum aus dem Kreml zu denken und an all jene, die wegen ihm leiden müssen. Aber vielleicht ist es deswegen gerade jetzt gut und wichtig und richtig, DURCH DAS GROSSE FEUER zu lesen, das dem alles überwältigen Grau, in dem wir uns bei den Nachrichten dieser Tage wiederfinden, dann doch ein kleines, helles Licht entgegensetzt.
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Ich habe dieses Buch von einer Freundin geschenkt bekommen, die beim Verlag arbeitet; es handelt sich bei dieser Rezension also nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung, sondern sie gibt lediglich meine Meinung wieder.
Alice Winn: DURCH DAS GROSSE FEUER. Aus dem Englischen von Ursula Wulfekamp und Benjamin Mildner. Eisele Verlag, 2023
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