In dieses Buch kann man sich von der ersten Seite an verlieben
„Das Gewicht von Leslies Händen auf seinen Schultern. Daniel wird es durch diese sauberen Kleider spüren. Er wird es durch einen Schlafanzug spüren. Er wird es durch einen Maleroverall spüren, durch einen eleganten Anzug an seinem Hochzeitstag, durch denselben eleganten Anzug am traurigsten Tag. Er wird es durch all die Jahre spüren, die vor ihm liegen, und all die Jahre, die hinter ihm liegen, wenn sie wiederauftauchen wie ein Traum. – Diese Menschen sind so reizend, so vertrauensvoll, denkt er. Dabei kennen sie mich gar nicht. In ihm steigt erneut ein Heulen auf. Er braucht all seine Kraft, um es zurückzuhalten und zu sagen, danke, das ist sehr nett.“
Die schönsten Geschenke sind bekanntlich die, mit denen man nicht rechnet, und so ging es mir mit diesem Buch – denn ich habe ihn gekauft, ohne die Rückseiten- oder Klappentexte zu lesen, weil ich den Vorgänger so mochte, BÄREN FÜTTERN VERBOTEN. Auch FLAMINGO ist ein Roman, nach dessen Lektüre das Herz übervoll ist und man innerlich wie ein aufgeregtes Kind von einem Bein auf das andere springt, weil man es kaum aushalten kann, endlich darüber zu erzählen … und möglicherweise zu singen und zu tanzen und Glitzerkonfetti über alles und jeden zu werfen. Denn Rachel Elliotts von Claudia Feldmann fließend ins Deutsche übertragene Wundertüte ist großes Kino – und eindeutig das Buch, auf das alle gewartet haben, deren Herzen ein bisschen alltagsversehrt sind und sich Leseglück wünschen, wie es uns sonst vermutlich nur Mariana Leky bescheren kann.
Elliott erzählt von einer Familie, die eigentlich aus zweien besteht, nämlich aus Daniel Berry und seiner sehr jungen Mutter Eve, die von ihren neuen Nachbarn mit offenen Armen begrüßt werden – von der exaltierten Sherry Marsh und ihrem gemütlichen Mann Leslie, um genau zu sein, denn deren Töchter Pauline (die sehr in ihrer eigenen Welt lebt) und Rae (die alles dafür geben würde, nicht in der Welt ihrer lauten Mutter leben zu müssen) können zunächst wenig mit den Neuankömmlingen anfangen. Das wird sich ändern, denn die Berrys und die Marshs wachsen zusammen wie zwei üppig aufblühende Schlingpflanzen, die sich gegenseitig Halt geben und nahezu untrennbar sind, wenn nicht … nun: Das sei an dieser Stelle nicht verraten. Nur so viel: Zu Beginn des Romans begegnen wir Daniel, inzwischen 34 Jahre älter, haltlos, hilflos, obdachlos – und Rae, die seit Jahrzehnten nichts mehr von ihrem Kindheitsfreund gehört hat, immer noch unter der Lautstärke ihrer Mutter leidet und Stammkundin ist bei einem Internetservice, bei dem man sich Freunde auf Zeit buchen kann.
Die Geschichte, die sich vor uns staunend Lesenden entfaltet, ist immer wieder tragisch – und leuchtet gleichzeitig in den wärmsten Farben. Während sie höchst geschickt zwischen den Zeitebenen und Perspektiven wechselt, drückt Elliott mit bravouröser Leichtigkeit sämtliche emotionale Knöpfe, die man sich vorstellen kann (dazu einige, mit denen nicht zu rechnen ist), und scheut auch nicht davor zurück, Porzellanschafen und Flüssen Sprechrollen zu geben. Das könnte leicht in den Gefühlskitsch abgleiten, tut es aber nie, sondern wärmt wie eine behagliche Decke an kalten Abenden. Warum? Weil wir uns vermutlich alle auf die ein oder andere Art in den Protagonisten wiederfinden können, in ihren Eigenheiten, aber auch ihrem unbändigen Wunsch nach Gemeinschaft und Zugehörigkeit. (Ganz nebenbei erfahren wir noch dazu, dass eine Gruppe Raben im Englischen als „Lieblosigkeit“ bezeichnet wird und eine Gruppe Feldlerchen als „Frohlocken“, bekommen eine Ahnung davon, wie es sich anfühlen mag, in einem Second-Hand-Kaufhaus seinem alten Leben zu begegnen, und sind bei einem Weihnachtsfest zu Gast, das kuschelweich ist und zu Tränen rührend.)
Gerüchteweise neige ich Leser von geringem Verstand zur Kritik, und wenn ich wollte, könnte ich sie auch an diesem Roman üben – wie gerne hätte ich mehr über die Nebenfiguren Franklin und Robbie erfahren, die Elliott allein als Statisten einsetzt, so wie auch Sherrys Zwillinge nur so nebenbei erwähnt werden, dass man sich kaum ihre Namen merken kann und fragt, warum sie sich nicht im Rahmen des Lektorats ganz aus der Handlung verabschiedet haben. Aber fällt das ins Gewicht? Ganz eindeutig nicht! Denn vor lauter liebevollen Schörkeln wie einem besonders schön geschwungenen &-Zeichen und einem Gemälde, das man sich sofort selbst an die Wand hängen möchte, kommt man sowieso kaum dazu, den Verstand anzuschalten – zu sehr sind wir mit Staunen, Fühlen und Lieben beschäftigt. Und das sage ich als bekennender Anführungszeichenfetischist, der sie in FLAMINGO vor lauter ACH und HACH aber kaum vermisst hat.
Wie soll man ein passendes Schlusswort finden zu einem Buch, über das man am liebsten mehr und mehr und mehr erzählen möchte? Ach, ich spare es mir … und lege euch FLAMINGO einfach mit einem sehr beglückten und breitbewegten Lächeln ans Herz.
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Ich habe dieses Buch selbst gekauft; es handelt sich bei dieser Rezension also nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung, sondern sie gibt lediglich meine Meinung wieder.
Rachel Elliott: FLAMINGO. Aus dem Englischen von Claudia Feldman. Mare Verlag, 2023
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