Wenige Wochen nach dem Fall des Machthabers Assad reist die Journalistin und Autorin Ronya Othmann in die Heimat ihres Vaters – und nicht uns in RÜCKKEHR NACH SYRIEN mit auf die Reise durch ein ungewisses Land.
„Als ich noch in Syrien war, sagte mein Vater, war ich froh über jeden Ausländer, mit dem ich ins Gespräch kam. Was denkst du denn, wie es ist, wenn du ein Leben lang eingesperrt bist. Fremde sind ein Tor zur Welt. – Und tatsächlich, die Menschen, denen wir begegnen, sind freundlich und aufgeschlossen. Und wenn wir auf Angehörige von Minderheiten treffen und ihnen erzählen, dass auch wir einer Minderheit angehören, verlieren sie die letzte Scheu.“
Wenige Bücher haben mich 2024 so durchgerüttelt wie VIERUNDSIEBZIG, in dem die Journalistin und Autorin Ronya Othmann über die vierundsiebzig Genozide schreibt, die sich gegen die Menschen richteten, die der Religionsgemeinschaft der Jesiden angehören. Es ist ein Buch, das uns Lesenden oft mit maximaler Wucht ins Gesicht schlägt, weil die Grausamkeit, der Fanatismus, die Ausweglosigkeit intensiv spürbar ist. Ronya Othmann stand mit diesem Buch zurecht auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis – es ist ein Werk, dessen Inhalt man gerne vergessen würde, aber nicht kann.
Nun suche ich nach dem richtigen Wort, um zu beschreiben, was ich empfunden habe, als ich sah, dass Ronya Othmann ein neues Buch veröffentlichen würde – Vorfreude hat definitiv den falschen Klang, Angst wäre zutreffend, ist aber auch nicht richtig. So oder so: Natürlich musste ich RÜCKKEHR NACH SYRIEN lesen.
Nach vierundzwanzig Jahren an der Macht floh Baschar al-Assad Anfang Dezember 2024 aus Syrien und gab aus dem russischen Exil seinen Rücktritt bekannt; eine merkwürdige Formulierung für einen Diktator. Schon am 25. Dezember machen sich Ronya Othmann und ihr jesidisch-kurdischer Vater, auf den Weg zu dem, was der Untertitel zusammenfasst als eine „Reise durch ein ungewisses Land“.
Es klingt poetisch, von einer Reise in die Dunkelheit zu sprechen – Ronya Othmann zeigt, dass die Realität etwas ganz anderes ist
RÜCKKEHR NACH SYRIEN ist ein deutlich dünneres Buch als VIERUNDSIEBZIG, und als ich mit einer Bekannten darüber sprach, hüpfte mir ein „Es ist nicht ganz so brutal“ über die Lippen – aber das ist nur die halbe Wahrheit. Ja, Ronya Othmann schreibt über weniger Gräueltaten als im Vorgängerbuch, aber wie „unbrutal“ sollen Eindrücke aus einem Land sein, in dem immer noch viele Menschen auf der Flucht sind, um ihr Leben fürchten müssen – und sich andere entweder alte oder neue Ziele suchen, um einen so tiefverwurzelten Hass auszuleben, der mich immer wieder verstört zurücklässt.
Man kann Ronya Othmann dankbar sein, dass sie dies alles für uns journalistisch erzählend aufbereitet, mit so viel Abstand, dass wir uns zumindest manchmal aus dem intensiven Miterleben zurückziehen können, aber gleichzeitig so unmittelbar, dass wir uns fragen: Wie hält ein Mensch das aus, auf so einer Reise zu sein, die immer wieder von der Angst um das eigene Leben überschattet gewesen sein muss? „In solchen Momenten kann man nicht weglaufen“, hat die Autorin mir auf meine Frage geantwortet, „und die Nerven verlieren bringt auch nichts, also steht man das durch.“
Viele Begegnungen, die vielleicht nur möglich sind, wenn man nicht mit einem großen Kamerateam und Security unterwegs ist
Auf dem Einband des Buchs sehen wir ein graues Bild der Verwüstung, und diesen Eindruck wird man bei der Lektüre nie los, obwohl RÜCKKEHR NACH SYRIEN vor allem durch die lebhaften Begegnungen mit all den Menschen geprägt ist, die Ronya Othmann und ihr Vater getroffen haben. Die beiden begegnen Alawiten, Suniten, Ismaliten, Juden, Kurden und vielen anderen Gruppierungen; sie sprechen mit einem drusischen Scheich, der sie in seinem Büro empfängt, und in einem Lager mit gefangenen IS-Fanatikern.
Ronya Othmann nimmt uns mit, wenn sie durch ein leerstehendes Gefängnis geht, durch die Villa des Assad-Clans – oder ein Waisenhaus besucht. Dort leben Kinder, die von jesidischen Müttern geboren wurden, nachdem IS-Anhänger sie vergewaltigt haben – und die viele dieser Frauen zurücklassen müssen, um wieder in ihren Familien und Gemeinschaften aufgenommen werden zu können.
Das Syrien, das wir in Ronya Othmanns Aufzeichnungen kennenlernen, ähnelt dem, das wir aus den Nachrichten kennen – und doch spüren wir: Hier ist jemand näher dran, hier kann jemand journalistische Objektivität und subjektive Einschätzungen auf Grundlage persönlicher Erfahrungen verweben. Das bedeutet neben all dem Wahnsinn, der niederschmetternden Gewissheit, dass sich so schnell nichts zum Guten wenden wird, auch solche Momentaufnahmen:
„Während wir unser Eis essen, denke ich, dass ich neben all der komplizierten Politik, neben all dem Krieg, der Gewalt und den Verwerfungen, eigentlich darüber schreiben müsste – über diese liebenswürdige Freundlichkeit der Menschen, über ihren Witz. Wir haben in diesen Tagen doch auch so viel gelacht. – Und ich denke, während ich dieses pappig-süße Softeis esse, am Ende werde ich wahrscheinlich doch keinen Platz dafür finden, weil es mir so unpassend vorkommt zwischen den Wunden, dem Schmerz, weil eben so vieles so traurig, so grausam, so hart ist, weil so viel erklärt und erzählt werden muss. Aber dieses Softeis, schwöre ich mir, das muss rein.“
RÜCKKEHR NACH SYRIEN ist kein Buch, das man gerne liest – aber vielleicht muss man es genau deswegen tun
Und so, wie auf dem bereits erwähnten Einband eine orangefarbene Schrift auf dem grauen Hintergrund steht, gibt es beides in RÜCKKEHR NACH SYRIEN: Den unfassbaren Fanatismus von IS-Anhängerinnen, die vor nichts zurückschrecken, um neue Krieger zu gebären, und den Mut kurdischer Kämpferinnen (die besonders gefürchtet sind, weil – man weiß nicht, ob man schreien oder lachen soll – es als besonders unehrenhaft für einen Mann gilt, von einer Frau getötet zu werden, da ihm dann die Pforten des Paradises verschlossen bleiben). Geschichten von Mord und Verzweiflung stehen neben jenen über Resilienz und Hoffnung. Und manche Momentaufnahmen, die fast aus einem Drehbuch stammen könnten, verdeutlichen umso mehr, warum der Untertitel – „Eine Reise durch ein ungewisses Land“ – so bedacht gewählt wurde:
„Wir erreichen Damaskus spätnachmittags, Als wir uns im Hotel anmelden, kopiert der Mann an der Rezeption unsere Pässe. Warum tust du das, fragt mein Vater. – Für die Geheimdienste, sagt der Mann, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt. Früher haben wir die den Geheimdiensten gegeben, ergänzt er. Sieben Kopien für sieben politische Geheimdienste. – Aber jetzt gibt es keine politischen Geheimdienste mehr, sagt mein Vater. – Aber wer weiß, sagt der Mann. Vielleicht kommen ja bald neue.“
Anfang Januar 2025 kehrt Ronya Othmann nach Deutschland zurück.
„Ich packe meine Methol-Zigaretten aus, die ich an einem Kiosk in der Nähe von Suwaida gekauft habe“, schreibt sie, „die Patronenhülsen, die vor der Zitadelle von Aleppo auf dem Boden gelegen hatten. Ein kleines Stück Marmor von Assads Villa in Qardaha lege ich zu der Scherbe von Saddam Husseins Palast.“
Und dem schließt sich etwas an, was sich mir eingebrannt hat, weil es von universeller Wahrheit ist und es schafft, Hoffnung und Verzweiflung, die RÜCKKEHR NACH SYRIEN durchziehen (und dann noch mehr Hoffnung, und dann noch mehr Verzweiflung), auf den Punkt zu bringen:
„Die Frage ist nicht, ob Diktatoren gestürzt werden, denke ich, irgendwann fällt jede Diktatur. Die Frage ist, wie viel Zerstörung sie bis dahin anrichten. Und was danach kommt.“
***
Ich habe dieses Buch nicht gekauft, sondern als Rezensionsexemplar vom Verlag erhalten. Bei meiner Rezension handelt es sich trotzdem nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung: Sie gibt lediglich meine subjektive und unbeeinflusste Meinung wieder.
Ronya Othmann: RÜCKKEHR NACH SYRIEN. Eine Reise in ein ungewisses Land. Rowohlt, 2025.
Meine Rezension zu VIERUNDSIEBZIG findet sich HIER, mein Interview mit Ronya Othmann HIER.


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