In ihrem sechsten Roman – und deutschen Debüt – erzählt die französische Autorin Colombe Schneck vom kurzen Leben der Cousine ihrer Mutter, die 1943 in Auschwitz ermordet wurde.
„Zuerst habe ich mich geirrt. Ich sagte mir, das ist zu einfach, du trägst Sandalen mit goldenen Lederriemchen, du stürzt dich Hals über Kopf in aussichtslose Liebschaften, du sonnst dich gern am Mittelmeer, und du glaubst, eine junge Frau wie du könnte ein Buch über den Holocaust schreiben?“
Nichts an der Bitte scheint ungewöhnlich zu sein: Die Mutter von der französischen Autorin Colombe Schneck bittet sie, ihre Tochter mit zweitem Vornamen Salomé zu nennen, als Erinnerung an Hélènes Nichte, ein goldenes Kind, das jeder in der Familie liebte … von dem vorher aber noch nie die Rede war.
Colombe bekommt einen Sohn; die Mutter stirbt; zwei Jahre später bringt die Autorin eine Tochter zur Welt, erinnert sich aber erst an ihr Versprechen, als die Kleine längst Salomé heißt, weil eine Freundin ihr diesen Namen ans Herzen gelegt hat. Er klingt schließlich sehr schön, verbindet Colombe nun mit ihrer Cousine, die sie nie kennengelernt hat, weil Salomé Bernstein als Kind in einem KZ ermordet wurde.
DIE ERSCHÜTTERUNG, 2018 in Deutschland veröffentlicht und fließend von Uli Wittmann aus dem Französischen übersetzt, erzählt von der Spurensuche, die Colombe Schneck tief in ihre Familiengeschichte führt, aber natürlich auch viel erzählt über das Schicksal der europäischen Juden. Sie schreibt über das unaufhaltsame Heranrollen des Grauens in den Zeiten der Nazi-Diktatur, über die Widerwärtigkeit von Menschen, die sich überlegen fühlen, vom Morden – und vom Überleben.
DIE ERSCHÜTTERUNG wird seinem Titel immer wieder gerecht, ganz egal, ob jüdische Mädchen freiwillig in den Tod gingen mit Kindern, die nicht ihre eigenen waren, um so die Mütter zu retten, oder die Autorin in einem Flugzeug damit konfrontiert wird, dass eine Frau aus Polen findet, es müsse nun aber endlich genug sein mit der Aufarbeitung, ihre Vorfahren hätten schließlich genau so unter den Nazis leiden müssen.
Colombe Schnecks Spurensuche ist alles andere als leicht zu ertragen – und bereichert doch sehr
Das Buch hat viele Szene, nach denen ich es zur Seite legen musste, weil sie mich tief getroffen haben: Selbst Momente der Hoffnung – wenn sich ein Mann im Büro des „American Jewish Committee“ in Colombes Tante verliebt „als hänge sein Leben davon ab“ – können nur deswegen Licht haben, weil sie in einer Dunkelheit beginnen, die schwer auszuhalten ist.
Während ich die vielen Stellen noch einmal ansehe, die ich in diesem gerade einmal 190 Seiten (und zwei Fotos) umfassenden Buch markiert habe, ist sofort alles wieder da, was ich beim Lesen empfunden habe: die Trauer und das Entsetzen, das Mitgefühl, die Wut. Und ja: auch ein Gefühl von Hoffnungslosigkeit.
Und doch ist DIE ERSCHÜTTERUNG ein Buch, das ich sehr empfehlen möchte, das ich – trotz und gerade wegen des Inhalts – mit einer der Erzählweise der Autorin angemessenen Bewunderung gelesen habe (und euch darum sehr ans Herz legen möchte, das vergriffene Buch antiquarisch zu besorgen). Umso gespannter bin ich nach meiner Begeisterung für Colombe Schnecks PARIS-TRILOGIE nun auf ihr nächstes Buch, das bald bei Rowohlt erscheinen wird. Und schließe, ohne zu viel zu verraten, hier mit den ersten Sätzen, mit denen die Autorin uns auf ihre Reise einlädt, und mit den letzten, die Colombe Schneck uns mit auf unsere Wege gibt:
„An jedem 26. Oktober 1943 vereinigte meine Urgroßmutter Mary mit einem Schritt das Leben und den Tod, die heutigen Lebenden und Auschwitz. All das habe ich erst vor kurzem erfahren.“
„Salomé Bernstein wurde Anfang März 1927 geboren und ist Ende Oktober 1943 gestorben. Sie wäre heute fünfundsiebzig Jahre alt. Nun kann sie für mich endlich in Frieden ruhen.“
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Ich habe dieses Buch selbst im niedergelassenen Buchhandel gekauft. Bei meiner Rezension handelt es sich nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung: Sie gibt lediglich meine subjektive und unbeeinflusste Meinung wieder.
Colombe Schneck: DIE ERSCHÜTTERUNG. Aus dem Französischen von Uli Wittmann. btb, 2015.


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