Eine Bridget Jones der Strafverteidigung stolpert von Fall zu Fall
„Ich hatte gelesen und gehört, was mein Mandant getan hatte. Dafür sollte er seine gerechte Strafe bekommen. Doch die gab es nur, wenn wir die ganze Wahrheit kannten. Und die würde ich herausfinden.“
Der Brief, den die Strafverteidigerin Eva Herbergen gerade geschrieben hat, ist kurz, aber er liegt theatralisch schwer in ihrer Hand – denn mit ihm wird sie die Rechtsanwaltskammer darüber informieren, dass sie nach mehr als 30 Jahren ihre Zulassung zurückgibt. Wäre ich garstig, ich würde sagen: „Hätte sie’s doch vorher getan.“ Aber wer will schon garstig sein? (Weil ich’s nicht bin – man stelle sich mich mit liebreizendem Lächeln vor –, warne ich direkt: SPOILER AHEAD!)
DUNKLE MOMENTE, das sind neun fiktive Fälle (und ein Nachtreten) der fiktiven Eva Herberger – aber natürlich kokettiert der Roman der realen Professorin für Strafrecht, Elisa Hoven, damit, dass diese Verbrechen von Tatsachen inspiriert sind. Und so kommen sie uns alle bekannt vor: Wir erinnern uns konkret an den „Kannibalen von Rothenburg“, wir meinen schon gehört zu haben, dass irgendwo auf der Welt ein ehemaliger Kindersoldat vor Gericht gestellt wurde, und natürlich wissen wir, dass in internationalen Konzernen Bestechungsgelder gezahlt werden. Dass manche Rentnerin frühzeitig sterben muss, um beerbt zu werden. Und dass eine Frau, die allzu sorglos mit betrunkenen Männern anbandelt, sich in Gefahr bringt. – „Moment mal“, wird sich jetzt hier und da zurecht Protest erheben, „was soll denn das heißen, die Frau hat sich selbst in Gefahr gebracht?“ Aber auf dieses Problem, das ich mit DUNKLE MOMENTE habe, kommen wir erst später zu sprechen.
ES GIBT GRÜNDE, DAS BUCH ZU LOBEN
Eigentlich macht Elisa Hoven alles richtig: Sie schreibt flüssig, hält sich trotz abgründiger Fälle nicht mit überkomplexer Psychologie auf und prescht barrierefrei durch 333 Seiten, die man genau so lesen kann, wie man die x-te Anwaltsserie anschaut: irgendwo zwischen Grundinteresse und Halbschlaf. Dass die für Eva Herbergen spektakulär unerwarteten Wendungen dabei selbst für mich als Spannungsmuffel höchst vorhersehbar sind, sorgt dafür, dass man die Mord-und-Totschlag-Episoden auch entspannt vor dem Einschlafen lesen kann; dazu passt, dass eine Dame, während sie brutal erstickt wird, sogar noch Zeit findet, selbstironisch darüber zu sinnieren, dass sie als Krimifan niemals erfahren wird, wer ihr Mörder ist … (Ich muss gestehen, dass ich keine Aussage über den fünften Fall machen kann – das Thema Kannibalismus widert mich so an, dass ich vorgezogen habe, dieses Kapitel zu überspringen.)
Warum dieses Buch bei S. Fischer erschien, also einem literarischen Verlag, ist reichlich rätselhaft – vermutlich dachte man dort, dass eine weibliche Antwort auf die Bestseller von Ferdinand von Schirach so schlecht nicht sein kann. Ich bin geneigt zu sagen: Doch, das geht schon. Denn während DUNKLE MOMENTE an Spannung spart, verdient sich die Autorin Fleißkärtchen für die schlechteste Anwältin, die zumindest ich mir vorstellen kann. So hilft Frau Herbergen bei der Vertuschung eines Mordes, geht einem kriminellen Mastermind auf den Leim, vernichtet Beweismittel, um die Seele einer Freundin nicht zu belasten, und ist – gestresst von ihren Hochzeitsvorbereitungen – so genervt von einem Mandanten, dass sie ihn schnell loswerden möchte, was in der Konsequenz den Tod einer ganzen Familie nach sich zieht. Oopsie! Aber am Ende wird es nicht nur uns Lesenden, sondern auch Frau Herbergen zu viel, weswegen sie besagten Mastermind dann doch zur Strecke bringt, nachdem der ihr in der Tradition aller James-Bond-Bösewichter bei einem guten Glas Wein seinen Evil-Genius-Plan enthüllt hat. Wäre ja noch schöner, wenn der ungestraft davonkäme! Das findet sicher auch der Peter, Evas Ehemann, der ihr das ganze Buch über liebevoll zur Seite steht. Denn das menschelt so schön, wird sich die Autorin gedacht haben.
KANN EIN BUCH MISOGYN SEIN, WEIL ES EINE FRAUEN ABWERTENDE WELT DARSTELLT?
Ob Elisa Hoven sich auch etwas dabei gedacht hat, dass die Frauenfiguren in ihrem Buch allesamt der Klischeekiste entsprungen sind? Sie sind entweder schön und durchtrieben, schön und durchgedreht, oder … nicht schön, weil nicht schlank, und dann natürlich auch nicht attraktiv für die Männerwelt. Zugegeben, Hoven schreibt über Straftäter und deren Sicht, die keine feministische sein muss – aber mir gingen die eindimensionalen Figuren gehörig auf die Nerven.
Richtig übel habe ich es empfunden, wie die Autorin das bereits erwähnte Vergewaltigungsopfer darstellt: Zunächst wird betont, dass es sich regelrecht an den ersten ihrer zehn Peiniger herangeworfen hat, was dessen Tat zwar nicht entschuldigt … aber ich habe das unangenehme Gefühl, dass hier eine Mitschuld in den Raum gestellt wird. Zumal das Opfer hernach durch eine Lüge alle elf Angeklagten ins Gefängnis bringt, kaltblütig einkalkulierend, dass dadurch auch ein Unschuldiger bestraft wird. Eva Herbergen ist entsetzt! Und ich bin es auch, wenn auch aus anderen Gründen: Natürlich ist DUNKLE MOMENTE nur ein Roman. Aber von einer Professorin für Strafrecht und einem Verlag wie S. Fischer hätte ich auch im Rahmen einer Fiktion einen weniger reißerischen Umgang mit dem Thema erwartet. Ob Elisa Hoven das wirklich genau so schreiben wollte … oder vom Verlag nicht motiviert wurde, aus der Grundidee mehr herauszuholen?
Für viele Lesende ist DUNKLE MOMENTE sicher spannende Unterhaltung. Das kann man so sehen. Für mich ist es leider eine Enttäuschung, wobei ich als Leser von geringem Verstand – und im Zweifel für „die Angeklagte“ – natürlich komplett falsch liegen kann.
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Ich habe dieses Buch vom Verlag als kostenloses Rezensionsexemplar erhalten. Bei meiner Rezension handelt es sich trotzdem nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung, sondern sie gibt lediglich meine Meinung wieder.
Elisa Hoven: DUNKLE MOMENTE. S. Fischer Verlag, 2025
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