Das Debüt von Amira Ben Saoud elektrisiert, aber leider nur kurz

„Es war nicht leicht, jemanden nicht umzubringen, wenn man schon einmal dabei war.“

Zu den schwierigsten Herausforderungen, denen sich Schreibende stellen können, gehören Romane, die in der Zukunft spielen: Für solche Geschichten muss man sich gut auskennen in Vergangenheit und Gegenwart, um auf dieser Grundlage eine im Huxley’schen Sinne „schöne neue“ Welt zu entwerfen, die in sich konsistent ist.

Ganz egal ob Space Opera oder Dystopie wie DER REPORT DER MAGD: Die Autorinnen und Autoren müssen genaue Vorstellungen haben über die Entwicklung, die eine Gesellschaft genommen hat, und deren Regeln. Natürlich ist auch ein „Nö, ich will über etwas anderes schreiben, dafür brauche ich das Zukunftssetting nur als Kulisse“ möglich – das finde ich als Genre-affiner Leser ärgerlich. Und das führt mich leider zu SCHWEBEN von Amira Ben Saoud. (Spoilers ahead.)

Alles Panem, oder was?

Nach dem Klimakollaps, der die Erde erst grillte und danach abgekühlte, haben sich die Überlebenden in abgeschotteten Siedlungen zusammengeschlossen, die jeweils auf die Herstellung eines Produkts spezialisiert sind – wer nun an die Welt der HUNGER GAMES denkt, liegt nicht falsch, denn auch hier gibt es eine Regierung, die es nicht gut mit den Menschen meint. Abgeschafft wurde die „permanente Verbundenheit“ der Vorzeit, die nur zu Problemen geführt hat; darum findet der Warenaustausch zwischen den Siedlungen kontaktlos statt – und wer versucht, eine andere zu betreten, wird an der Grenze erschossen. Verboten ist auch die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und die Anwendung jedweder Gewalt (außer, man überschreitet eine Siedlungsgrenze, dann: PENG). So weit, so PANEM.

Zu Beginn erfahren wir, dass man sich in der Siedlung, in der SCHWEBEN spielt, nicht mehr an das Gewaltverbot hält: Unter den jungen Menschen grassiert die Lust, zu schlagen und sich schlagen zu lassen … manchmal bis in den Tod. Die Holzhammerbotschaft, dass man sich in einer oppressiven Gesellschaft nur im Schmerz fühlen kann, muss ich hier nicht extra erwähnen. Trotzdem wäre dies ein spannendes Thema gewesen; es findet aber nur am Rande statt. Und gegen Ende wird aus dem Schlagen dann ein Schweben: Die Menschen können für kurze Zeit fliegen, wobei ein Absturz der ersehnten Freiheit ein tödliches Ende setzen kann. Vielleicht wollen wir jetzt im Chor sagen: Holzhammer! Aber auch aus der Idee hätte man etwas machen können.

Nix Genre! Voll Literatur?

Das eigentliche Thema von SCHWEBEN ist aber die Suche nach Identität. Eine namenlose Erzählerin schlüpft für ihre Auftraggebenden in die Rolle von Frauen, die sie vermissen: eine Tochter, die sich von der Familie abgewandt hat, eine Geliebte, die gegangen ist. Kann man seine Identität finden, wenn man sich andere aneignet? Das ist eine gute Frage. Amira Ben Saoud gibt meiner Meinung nach aber leider keine entsprechende Antwort. Das liegt nicht an ihrem Talent: Sie schreibt flüssig und wohltemperiert, sie hat gute Ideen, und wenn man will, kann man sich gut in ihre Szenen fallen lassen. Umso bedauerlicher ist, dass sie nur einen Teil der Hausaufgaben gemacht hat – und ihre Geschichte in einer Welt ansiedelt, deren Statik weder in der Grobansicht noch den Feinheiten funktioniert.

So drückt Amira Ben Saoud sich darum, festzulegen, wie groß die Siedlung ist: eine Kleinstadt wohl kaum, aber eine Metropole? Wir haben es mit einer Gesellschaft zu tun, für die Kühlschränke ein seltener Luxus sind (klar, die Siedlung ist ja auf Holz festgelegt), neue Fahrräder und schicke Schuhe bleiben aber problemlos verfügbar. Es gibt normale Bürojobs, die nichts mit dem primären Handelsgut zu tun haben, Marktbuden statt Supermärkten, dafür Notizbücher, die von Firmen mit einem individuellen, maschinellen Eindruck für ihre Mitarbeitenden versehen werden. Und die Grenze, die auf keinen Fall von Außenstehenden übertreten werden darf? Ist ein Streifen, der im Wald auf den Boden gemalt wurde. Das hilft der Autorin, weil die Hauptfigur so mit dem Gedanken spielen kann, die Siedlung zu verlassen – da wären Zäune hinderlich. Aber hilft es dem Buch, das eine totalitär geprägte Planwirtschaft zeigen möchte, ohne diese konsequent darzustellen?

Die Höchststrafe, die in der Siedlung verhängt werden kann, ist Verbannung (und der sichere Tod); natürlich trifft dies zwei Frauen, die von einer skandallüsternen Menge zur Grenze begleitet werden … aber dann verschwinden sie im Wald, tschüssikovski, wir sind dann mal weg. Und die Menge? Geht nach Hause. Davon hätte Marie Antoinette auch geträumt.

Ungläubig angeschaut habe ich das Buch, als nach dieser Verbannung, bei der die Regierung noch mal mitteilt, dass jede Art von Gewalt nicht toleriert wird, die Hauptfigur von ihrem Auftraggeber vor vielerlei Augen brutal davongezerrt wird; diese Art von Gewalt scheint niemandem aufzufallen. Und so schlägt auch die Hauptfigur einer Frau, mit der sie einen Unfall verursacht, beherzt ins Gesicht – ohne Sorge zu haben, was mit ihr geschehen wird, wenn das Opfer sich an die Obrigkeit wendet.

(Selbstverständlich inkludiert die verbotene Gewalt auch Abtreibungen – während es die „Pille danach“ aber problemfrei zu kaufen gibt. Und nebenbei bemerkt: Ob in einem System, in dem es auch darum geht, Kontrolle über Frauenkörper auszuüben, offen Prostitution geben darf, sei dahingestellt.)

Wer hat hier geschlafen – oder warum nicht genau(er) hingesehen?

Das sind nur einige der Stolpersteine, die sich die Autorin selbst in den Weg legt, weil ihre dystopische Siedlung eine Art eierlegende Wollmilchsau ist, die ihr alles erlaubt, was sie als Tapete für die eigentliche Handlung braucht. Bei so viel Wurschtigkeit, was das World Building angeht, war es mir bald egal, andere Fragen zu stellen: Der Prolog ist beispielsweise ein Ausblick in die Zukunft, da die Hauptfigur dort bereits Bekanntschaft geschlossen hat mit einer Figur, die Anoukh heißt, aber erst in Kapitel 27 auftaucht. Wann genau soll dieser Prolog stattfinden? Es mag dafür eine gute Erklärung geben, die ich Leser von geringem Verstand überlesen habe; bei mir hat sich aber der Eindruck verhärtet, dass das Lektorat im Tiefschlag lag, statt Sparringspartner für die Autorin zu sein.

Ich ahne, dass es Amira Ben Saoud um all das nicht geht: Sie will, wie uns der Klappentext verrät, Beziehungen erkunden – „nicht zuletzt die potenziell gefährlichste: die zu sich selbst.“ Aber tut sie das? Wir erleben, wie die Hauptfigur in eine toxische Beziehung mit ihrem Auftraggeber schliddert, ja. Wir erfahren, dass sie sich diesen Erwerbszweig gesucht hat, weil sie ihre eigene Identität und ein traumatisches Erlebnis überschreiben will. Auch gut. Habe ich das gefühlt? Nein. Es bleibt für mich so behauptet wie die dystopische Welt. Noch dazu, weil – Holzhammer #3 – die Figur sich immer stärker verliert, während auch die Siedlung in Schieflage gerät, metaphorisch durch Risse, die sich in einem Schwimmbecken auftun; zudem erfahren wir am Ende, dass die Siedlung von der Außenwelt abgeschottet und dem Untergang ausgeliefert wird, weil sie ihr Handelsgut nicht mehr produziert: Holz. Wartet mal, wo verlief die Grenze noch? Ach ja, in einem Wald. Aber der hatte wohl keine Bedeutung für die Industrie …

Clemens J. Seitz bezeichnet SCHWEBEN auf dem Rückseitentext als „ein mit gespenstisch ruhiger Seele geschriebenen Roman über die existenziellen Zerreißproben der Menschen“; das hätte ich gerne gelesen. Die Autorin hat aber meiner Meinung nach leider nichts aus ihren Ideen gemacht. Mein Eindruck: Amira Ben Saoud ist ein Schreibtalent … beim Erzählen ist noch Luft nach oben.

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Ich habe dieses Buch nicht gekauft, sondern als Rezensionsexemplar vom Verlag erhalten. Bei meiner Rezension handelt es sich nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung, sondern sie gibt lediglich meine Meinung wieder.

Amira Ben Saoud: SCHWEBEN. Zsolnay Verlag, 2025