Eine Entdeckung, die sich lohnt: Platz 83 einer BBC-Liste der Bücher, die man gelesen haben sollte
„Während ich das hier schreibe, sitze ich im Spülbecken. Das heißt, eigentlich befinden sich nur meine Füße darin – ich hocke nämlich auf der Geschirrablage, die ich mit unserer Hundedecke und dem Teewärmer gepolstert habe. Besonders bequem sitze ich trotzdem nicht, und es riecht unangenehm nach Karbolsäure. Aber dies ist der einzige Platz in der Küche, an dem es noch ein wenig Tageslicht gibt. Und ich habe festgestellt, dass es inspirierend sein kann, irgendwo zu sitzen, wo man noch nie zuvor gesessen hat.“
So hinreißend beginnt NUR DER SOMMER ZWISCHEN UNS, ein Roman, den die britische Autorin Dodie Smith (von der auch die Romanvorlage für den Disney-Klassiker 1001 DALMATINER stammt) in den 1940er Jahren im amerikanischen Exil schrieb, in das sie gehen musste, da ihr Mann den Kriegsdienst verweigert hatte. Smith sehnte sich nach ihrer Heimat, nach der englischen Landschaft, der Schönheit des dortigen Frühlings und einem Gefühl von Unbeschwertheit, das sie vermutlich mit ihrer eigenen Jugend verband; dieses Sehnen zieht sich wie ein sanfter Sommerwind durch den ganzen Roman.
Dabei ist das Leben der 17-Jährigen Cassandra Mortmain, die in den 1930er Jahren in einer idyllisch gelegenen Burg(ruine) lebt, alles andere als watteweich: Ihr Vater hat nach dem Welterfolg seines ersten Romans und einem möglicherweise nicht ganz gerechtfertigten Gefängnisaufenthalt eine veritable Schreibhemmung, sodass die Familie ohne Einkommen zurechtkommen muss, da auch seine zweite Frau, die betörend schöne Topaz, nicht mehr als Künstlermodell arbeitet. Alle Möbel und Wertgegenstände sind verkauft, die Kleidung ist schäbig, der Hunger beißend, die Umstände prekär – und doch halten die Mortmains am Idealbild eines alten Lebensstils fest, der nun einmal nicht vorsieht, dass Cassandra und ihre einige Jahre ältere Schwester Rose Ambitionen haben könnten, selbst für sich zu sorgen; ihre Aufgabe ist es, hübsch auszusehen, nicht schlau zu sein (oder zumindest nicht bedrohlich schlau) und auf einen Mann zu warten, der sie der undenkbaren Eigenverantwortung enthebt. Als die überaus reiche amerikanische Familie Cotton ein naheliegendes Herrenhaus erbt, scheinen sich die Dinge zum Besseren zu wenden, da der älteste Sohn Simon rasch romantisches Interesse an Rose entwickelt und trotz seines unerhörten Vollbarts allerbestes Heiratsmaterial ist. Doch so einfach soll es natürlich nicht sein …
Die inzwischen zurecht in Ungnade gefallene J.K. Rowling hat über NUR DER SOMMER ZWISCHEN UNS gesagt: „Dieser Roman hat eine der charismatischsten Erzählerinnen, die ich kenne.“ Es ist tatsächlich ein Vergnügen, Cassandras (von Stefanie Mierswa ins Deutsche übertragener) Erzählstimme zu lauschen und mitzuerleben, wie sie im Lauf eines Sommers erwachsen wird, die erste Liebe und den ein oder anderen Erkenntnisgewinn inklusive.
Zum Coming-of-Age-Roman gehört, dass wir Lesenden einen gewissen Vorsprung haben und dem Hangen und Bangen von Cassandra mit einem milden Lächeln begegnen, sie manchmal schütteln könnten, sie gleichzeitig in den Arm nehmen möchten … und ihr zujubeln, wenn sie am Ende des Romans beginnt, die richtigen Entscheidungen zu treffen. (Nebenbei sei erwähnt, dass das Buch trotz der Idealisierung von Armut und jugendlicher Naivität – anders als der von mir so gar nicht geschätzte Klassiker BONJOUR TRISTESSE von Françoise Sagan – nicht überspannt ist, sondern eher den Eindruck einer Nancy Mitford mit Bodenhaftung hinterlässt.)
Charmant, amüsant, nostalgisch, verträumt, das sind alles Adjektive, aus denen man NUR DER SOMMER ZWISCHEN UNS ein Kränzlein winden kann, und es ist ein großes Vergnügen, sich in die üppigen, aber nie barocken Schilderungen von Dodie Smith fallen zu lassen – in einen fast schon verwunschen wirkenden Abend, der zu Cassandras erstem Kuss führen wird, in die Weichheit eines Teppichs, auf dem sie in einem Londoner Séparée tanzt, die Süße eines Kirschlikörs und immer wieder in das Leben auf dem englischen Land. Obwohl der Roman fest in der Epoche verankert ist, in der die Geschichte spielt und geschrieben wurde, wirkt er zeitlos, manchmal gar modern, wenn es zum Beispiel um das Verhältnis zwischen Künstlern und Musen geht; gleichzeitig wird die einzige wirklich zukunftsorientierte Figur, die Fotografin Leda Fox-Cotton, zum Inbegriff des Schreckens für Cassandra.
Und dann gibt es da noch Stephen – ach, STEPHEN! Der betörend schöne Sohn des verstorbenen Dienstmädchens ist der gute Geist der Familie und führt die Paradoxie dieser schon damals im Verblassen begriffenen Gesellschaftsschicht vor, da er nicht nur der Diener ist, der unermüdlich (und recht unbeachtet) arbeitet, sondern die Mortmains tatsächlich auch finanziert und dabei fast die Chance auf eigenes Glück verpasst; I can’t help but wonder ob die Autorin ihn optisch ein wenig an ihren eigenen Mann angelegt hat, was ein Foto der beiden vermuten lassen könnte.
2003 landete NUR DER SOMMER ZWISCHEN UNS in England auf Platz 83 einer BBC-Liste der Bücher, die man gelesen haben sollte. Ist das vom Oktopus Verlag sehr schön ausgestattete und mit einem Lesebändchen veredelte (dabei allerdings auch recht unverständlich auf 526 Seiten aufgeblasene) Buch also ein Meisterwerk? So weit würde ich nicht gehen – aber es hat einen warmen Glanz über die kalten Wintertage gelegt, an denen ich es gelesen habe. Darum: Applaus, Tusch und Trommelwirbel!
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Ich habe dieses Buch selbst gekauft; es handelt sich bei dieser Rezension also nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung, sondern sie gibt lediglich meine Meinung wieder.
Dodie Smith: NUR DER SOMMER ZWISCHEN UNS. Aus dem Englischen von Stefanie Mierswa. OKTOPUS bei Kampa, 2021.
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