Der Bildband LOVING, herausgegeben von Neal Treadwell und Hugh Nini, erzählt ganz ohne Worte 350 Liebesgeschichten

„Die folgenden Seiten enthalten Bilder sich liebender Männer, die bislang vor den Familien, Freunden und dem Rest der Welt verborgen geblieben sind. Trotz des großen Risikos wollten sie mit diesen Fotos ihren Gefühlen füreinander ein Denkmal setzen. Jedes einzelne Bild zeugt von Liebe, Zuneigung, persönlicher Bindung und Mut. […] Durch die Sammlung haben wir gelernt, dass wir nichts Neues sind. Wir, genau wie andere Paare wie wir, egal ob männliche oder weibliche, setzen die lange Reihe der sich liebenden Paare fort, die es vermutlich schon seit Anbeginn der Zeit gibt.“

Alte Fotos lösen in mir ein schwer zu benennendes Gefühl aus, das zwischen Neugier, begeisterter Aufregung und sanfter Melancholie oszilliert – denn während mein Blick noch auf den Gesichtern, Kleidungsstücken, Hintergründen verweilt, beginnen meine Gedanken bereits zu tanzen und mir Fragen zu stellen, auf die ich nur mit eigenen Geschichten antworten kann: Wer war das, wie kam es zu dem Bild, was wurde aus diesem Menschen, der längst zu Staub zerfallen ist?

Als ich zum ersten Mal vom Bildband LOVING – MÄNNER, DIE SICH LIEBEN gehört habe, war ich entsprechend aufgeregt, musste es sofort am Erstverkaufstag glücklich nach Hause tragen … und habe nun doch recht lange gebraucht, um mich ihm zu nähern und ihn ganz anzusehen: Die Vielzahl der 350 Doppelporträts ist überwältigend, und ich wollte nicht Gefahr laufen, irgendwann nur noch blind eine Seite nach der anderen umzublättern.

LOVING, herausgegeben von Neal Treadwell & Hugh Nini, ist mehr als nur ein Bildband, und liefert das Gramophon-Knistern zum Protestruf „We’re here, we’re queer“

Die Ehemänner Hugh Nini und Neals Treadwell haben diesen Schatz in über 20 Jahren Sammlertätigkeit zusammengetragen und laden uns ein, in ihm zu schwelgen … und uns dabei immer wieder die Fragen zu stellen, wie diese Bilder zwischen 1850 und 1950 entstanden. Wer hat sie aufgenommen, entwickelt und abgezogen? Denn sie stammen aus einer Zeit, in der Homosexualität geächtet und geahndet wurde.

Wir können nicht wissen, was aus diesen Männern wurde, ob sie glücklich miteinander blieben oder auseinandergingen, ob sie ihre Liebe mit anderen teilen oder als Geheimnis hüten mussten; doch ganz egal, ob sie sich unter einem behütenden Schirm zeigten und sich damit ein damals weitverbreitetes Hetero-Symbol aneigneten, ob sich ihre Fußspitzen wie zufällig berührten oder sie in klassischer Buddy-Pose in die Kamera schauen, sie verdienen über die Jahrzehnte hinweg unseren Respekt und unseren Dank: Jede Freiheit, die wir heute zumindest in meinem Teil der Welt genießen, jede Werbeanzeige mit gleichgeschlechtlichen Paaren, jede Netflix-Serie mit schwulen Charakteren, jede Pride-Parade verdanken wir auch den Männern, die lange vor uns sichtbar waren, im Kleinen oder Großen, laut oder leise.

Hunks und Twinks aus vergangenen Zeiten

LOVING zeigt die verschiedensten Arten der Intimität, und bei dem ein oder anderen Paar darf man natürlich die Frage stellen, ob es „nur“ Freunde sind oder wirklich FREUNDE. Wobei … ist das wichtig?

Die Menschen, die uns von den Seiten entgegenblicken, sind attraktiv und entsprechen in den allermeisten Fällen dem beliebten Stereotyp des maskulinen oder jungenhaften schwulen (und noch dazu weißen) Mannes. Spannend wäre es zu wissen, ob dies allein am vorhandenen Material liegt oder auch an der kuratierenden Hand der Herausgeber, die für ihre Sammlung und ihr Buch natürlich eine Auswahl getroffen haben, die ihrem Geschmack und ihren Sehgewohnheiten entspricht. Das könnte man kritisieren; oft wird im Mainstream-Gym oder beim distinguierten Besserverdiener-Brunch vergessen, dass wir mit all unseren heutigen Freiheiten auch auf den Schultern der effemierten „Tunten“ stehen, die sich jenseits des Mainstreams nicht verstellen konnten oder wollten … und oft mehr riskieren mussten als einen missbilligenden Blick.

LOVING, herausgegeben von Nead Treadwell & Hugh Nini, gibt der alten Weisheit, dass ein Mensch erst dann wirklich tot ist, wenn er in keinem Herzen mehr weiterlebt, eine neue Bedeutung

Diese Einschränkung fällt für mich persönlich nicht ins Gewicht, ebenso wenig wie der einleitende, akademisch-unbeholfene Text von Régis Schlagdenhauffen (der immerhin die Black Community erwähnt): Dieser Bildband ist ein Geschenk. Und zwar eins, das mich, wie eingangs angedeutet, ein wenig melancholisch zurücklässt – denn wenn dieses Fotos heute auf Flohmärkten oder in Antiquariaten verkauft werden, dann bedeutet dies, dass es niemanden mehr gibt, der sie als Teil seiner Familien- oder Freundesgeschichte weiter in Ehren hält.

Umso mehr Applaus für die internationalen Verlage, die es Hugh Nini und Neal Treadwell ermöglichen, diese Bilder nun einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen … und Dank, Küsse und Rosenblätterregen für Jonathan und Wilbur, Abel und Zachary, Oswald und Hugh und wie sie alle geheißen haben mögen: Ihr seid nicht vergessen!

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Ich habe dieses Buch selbst im niedergelassenen und unabhängigen Buchhandel gekauft. Bei meiner Rezension handelt es sich nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung, sondern sie gibt lediglich meine Meinung wieder.

Neal Treadwell & Hugh Nini (Hrsg.): LOVING – Männer, die sich lieben. Fotografien von 1850–1950. Übersetzung der Texte von Katja Hald, Michael Pfingstl, Sven Koch. Elisabeth Sandmann Verlag, 2020.