Der Titel von Doris Dörries Essay lautet WOHNEN – aber geht es vielleicht um etwas ganz anderes?

„In China wurden traditionell die Eingangsschwellen knöchelhoch gebaut, weil Geister keine Knie haben und nicht über die hohe Schwelle treten können. […] Ich glaube nicht an Geister, aber ich frage mich, ob wir nicht selbst in all den Wohnungen und Häusern unseres Lebens weiter herumgeistern, ob nicht jedes Haus eine Art Grab ist für unsere Erinnerungen.“

Die von mir sehr geschätzte Doris Dörrie – um hier nicht sofort von Verehrung zu sprechen, aber doch einen entsprechenden Grundton anzuschlagen – hat ein wunderbares Buch über das Wohnen vorgelegt … es ist aber möglicherweise nicht dieses hier, sondern der ebenso schmale Band DIE REISGÖTTIN, der bei Diogenes erschienen ist. Und was hat das jetzt mit der Sängerin Alice Merton zu tun?

WOHNEN ist, wie auch ALTERN von Elke Heidenreich, in jener Hanser-Berlin-Reihe veröffentlicht worden, die den schönen Slogan „Das Leben lesen“ trägt: Autorinnen schreiben über die Eckpfeiler dessen, was sie – und uns alle – zwischen Geburt und Tod bewegt. Dörrie legt, wie nicht anders zu erwarten, ein schlaues Essay vor, das zwischen Nostalgie, Abgeklärtheit und selbstironischer Wärme oszilliert; beim Lesen meint man, ihre Stimme zu hören und darin ein Lächeln, mit dem sie uns von einem Themenbereich zum nächsten führt.

Als Dörrie-Aficionado wird man selten überrascht, erkennt vieles wieder und hat darum das Gefühl, sofort zuhause zu sein in den 123 Seiten, auf denen die Autorin über das Zimmer ihrer Kindheit erzählt und Stationen ihres beruflichen Werdegangs, über den Kauf eines alten Bauernhauses und über die Frage, wie wichtig es gerade für Frauen ist, einen Raum für sich zu haben, und zwar nicht nur den gedanklichen, sondern auch einen mit echten Wänden. Vermutlich ist es nicht so, aber ich hatte das Gefühl, dass sich manches auch wiederholt, was das Lesevergnügen aber nicht schmälert.

Doris Dörrie verwebt in WOHNEN viele Themen zu einem stimmigen Ganzen

Literaturwissenschaftler mögen entscheiden, ob wir es hier mit einem „Train of thought“ zu tun haben oder einem „Stream of conciousness“, aber ich empfinde es als Vergnügen, wie wir hier mal in einem Zimmer in Hannover sind und dann schon wieder bei einer Luxus-Hausbesichtigung in Los Angeles, wie Dörrie sich daran erinnert, wie ihre Generation über alternative Wohnmodelle nachgedacht hat oder welches Glück es ist, nicht nur einem Raum zum Leben zu finden, sondern diesen auch wieder verlassen zu können – auch, um gar nicht erst Gefahr zu laufen, ein Opfer häuslicher Gewalt zu werden.

„Doris Dörrie ist eine Wohnende wider Willen“, verrät uns der Klappentext. „Nie wollte sie sich niederlassen, fest einrichten, Wurzeln schlagen, aber wie andere wohnen, hat sie schon immer interessiert.“ Und er endet dann so: „Doris Dörrie hat ihre ganze eigene Art des Wohnens gefunden.“ Was mich nun zu meiner eingangs erwähnten (und möglicherweise bewusst steilen) These zurückführt:

Ich empfinde WOHNEN als ein Buch darüber, wie wir Wurzeln schlagen oder es lassen, wie wir uns verorten, wie wir uns Räume suchen, die uns gut tun … und vielleicht auch darüber, welcher Luxus es ist, mehr als nur ein Dach über dem Kopf zu haben. Aber ist das Wohnen? Das bedeutet in meiner persönlichen Einordnung auch verharren, stillstehen (oder -sitzen) … und nicht zwangsläufig, sich einzurichten, aber doch das Weben eines Kokons – und dieses Gefühl haben mir die Erinnerungen in DIE REISGÖTTIN ein bisschen mehr gegeben als WOHNEN. Und dass Dörrie als Rahmen für ihre Gedanken nun einen nicht ganz ernstgemeinten Einrichtungs-Fragebogen der ZEIT bemüht … ist natürlich nett, wirkt auf mich aber fast ein wenig bemüht, um der Einladung des Verlags folgen zu können.

Was für mich neu war (neben der Erkenntnis, dass das schöne Wort Boudoir vom französischen Wort für „schmollen“ kommt) und der meiner Meinung nach heimliche Höhepunkt dieses schmalen Bandes ist, sind Doris Dörries Erinnerungen an die Villa eines Onkels, in die sich die Familie ihres Vaters vor der Bombardierung Hannovers im zweiten Weltkrieg gerettet hat. Die wenigen Seiten, die nun auch wir dort verbringen können, schreien nach einem eigenen Roman oder Film! Ganz große Liebe, und obwohl sich WOHNEN so oder so als kurzweilige Lektüre für alle lohnt, die den schmalen Band bezahlen oder ausleihen können, ist dies wirklich ein Geschenk.

Und welcher Song ging mir beim Lesen von Doris Dörries WOHNEN immer wieder durch den Kopf?

Wie es übrigens auch das Lied NO ROOTS von Alice Merton ist, auf das ich noch zu sprechen kommen will, weil ich immer wieder daran dachte, während ich dieses Buch las: „I‘ve got no roots“, heißt es darin, „but my home was never on the ground“, und das passt zu dem, was Doris Dörrie uns hier wohlkuratiert anvertraut. Und definiert die erste Strophe gar eine (und ihre) Art ihres Schreibens? „I like digging holes and hiding things inside them / When I grow old, I hope I won’t forget to find them / ‚cause I’ve got memories and travel like gypsies in the night.“

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Ich habe dieses Buch nicht selbst gekauft, sondern vom Verlag als Rezensionsexemplar erhalten. Bei meiner Rezension handelt es sich trotzdem nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung, sondern sie gibt lediglich meine Meinung wieder.

Doris Dörrie: WOHNEN. Hanser Berlin, 2025.