Lensi Schmidt lässt ihrer Wut freien Lauf – und verdient auch deswegen Aufmerksamkeit und Applaus

„Nicht jedes sexuelle Bedürfnis muss ausgelebt werden. Und ja, ich weiß, das ist jetzt ‘ne unpopuläre Meinung, aber: Sexuelle Vorlieben dürfen auch mal hinterfragt werden. Denn sorry, niemand kommt mit fertigen Kinks auf die Welt. Gott hat bei der Schöpfung nicht gesagt: ‚Ah, Linus aus Berlin-Friedrichshain. Steht auf lackierte Fingernägel und kann nur kommen, wenn er jemandem ins Gesicht spritzt!‘ (…) Wirklich, keine Ahnung haben, wie Zahnseide funktioniert, aber Leute beim Sex anspucken wollen – das sind mir die Allerliebsten.“

Verrückt, dass ich nie einen Fuß auf einen zugefrorenen See setzen würde, mich hier aber auf dünnes Eis begebe … denn auch, wenn ich nicht zur primären Zielgruppe von ICH ALS FEMINIST: 70 DINGE, DIE WIR BEI MÄNNERN NICHT MEHR ERTRAGEN gehöre, habe ich eine Meinung zum Buch von Lensi Schmidt.

Warum habe ich es gelesen? Weil es mir empfohlen wurde – und weil ich’s wichtig finde, mich dafür zu sensibilisieren, was möglicherweise unerträglich ist an meinem Verhalten. Natürlich bin ich geneigt zu sagen, dass ich wenig falsch mache, aber: Wer denkt, dass er kein Teil des Problems ist, ist es vielleicht genau deswegen. Wie soll ich ausschließen, dass ich mir in über 50 Jahren als CIS-Mann Verhaltensweisen angewöhnt habe, von denen ich nicht merke, dass ich sie problematisch finden müsste? Also: WIR GEHEN REIN!

Auf 203 Seiten arbeitet die Soziologin Lensi Schmidt sich durch die im Titel genannten 70 Aufreger. Es geht darum, was Männer sich wünschen („Kannst du mich im Bett Daddy nennen?“), was zu ihrem Weltbild gehört („Ich trinke Negroni“), was sie zu Freunden sagen („Sie hat Schluss gemacht. Wie sind eure Erfahrungen mit Tinder?“) oder als Anforderungsprofil stellen („Du hast ein bisschen zugelegt?“).

Seit meiner Bundeswehrzeit habe ich wenig Zeit in Gruppen heterosexueller Männer verbracht – und die Exemplare, die ich ans Herz drücke, sind in den meisten Fällen durch meine mit ihnen verheirateten Freundinnen handverlesen. Das, was freilaufende Männer an unerquicklichen Dingen zu Frauen sagen, ist daher etwas, was ich aus den Medien kenne oder als Anekdoten, die Freundinnen erzählen, um sich darüber zu amüsieren.

Lensi Schmidt zeigt in ihrem Buch männlichem Verhalten den Mittelfinger – und man wünscht ihr noch 20 Hände mehr

Das ist auch der Ansatz von Lensi Schmidt. Mit spitzer Feder und treibendem Furor schreibt sie über Fifty Shades of Vollpfostigkeit: Sie setzt männlichem Verhalten ein „Verlachen“ entgegen. Schmidt verpackt dies oft mit pointiertem Humor und so, dass man sich Bühnenprogramm-Mitschnitte davon wünscht, aber auch mit einer Galligkeit, in der Verletztheit mitschwingt. ICH ALS FEMINIST ist – zumindest in meiner Wahrnehmung – vor allem ein wütendes Buch. Und zwar auf beiden Bedeutungsebenen: Die Autorin verspürt Wut, und sie wütet.

Nun kann man sagen: Wer rot sieht, verliert die Kontrolle und Souveränität in der Argumentation. Mein Ansatz ist in diesem Fall ein anderer: Was wir brauchen, ist nicht weniger Wut von Frauen, sondern mehr. Mehr Aufschrei, mehr Provokation – und durch die damit verbundene Lautstärke mehr Aufmerksamkeit.

Zugegeben, ich dachte beim atemlosen Lesen der kurzen Texte oft, dass Lensi Schmidt zu sehr verallgemeinert, aggressiv Schwarzweiß sieht, wo Graustufen möglich wären; ein männliches „Ich übernehme die Hälfte der Hausarbeit“ giert meiner Beobachtung nach nicht unbedingt nach Applaus, sondern kann auch eine Feststellung sein wie „1 + 1 = 2“ oder „Ich habe eine Wassermelone getragen“. Natürlich verstehe ich, dass es der Autorin nicht darum geht, Gefangene zu machen, und das finde ich vollkommen okay … und vielleicht sogar genau richtig so. Hier und da habe ich mich trotzdem gefragt: „Ja, Frau Schmidt, guter Punkt – aber auch ein bisschen übertrieben?“

Die Wahrheit scheint eine andere zu sein. (Und ja, ihr dürfte mich gerne auslachen, weil die nachfolgende Erkenntnis den Grad meiner Unwissenheit illustriert.)

Als Mann bin ich vermutlich oft fehlsichtig – und dankbar dafür, dass Lensi Schmidt mir eine Lesebrille reicht

„Ich würde ja nie eine Frau daten, die so viele Leute hatte“, legt Lensi Schmidt einer ihrer Figuren in den Mund. „Ich will eine, die weiß, was sie tut, aber nicht zu viel Erfahrung hat.“ Und setzt als Kommentar hinterher: „Ah, okay. Du willst eine Frau, die keine Erfahrung hat, aber gleichzeitig diejenige ist, die dir ‚die Show‘ liefert, weil, zu prüde ist es dir auch nicht recht? Interessante Logik, Bro. Vielleicht solltest du erst mal […] das ‚Ich will eine Jungfrau, aber mit Erfahrung‘-Dilemma aufräumen, bevor du versuchst, das Leben anderer zu bewerten.“

Okay, dachte ich, steile These, aber sagen Männer das wirklich noch? Also habe ich so ein Umfrage-Dingi auf Instagram gestellt, und … JESSAS! Über 80 % der Rückmeldungen klickten auf „Ja“ oder „Das ist noch harmlos“, und die Geschichten, die mir per Direct Message geschickt wurden, haben mir die Schuhe ausgezogen. (Das liegt sicher an meiner Naivität und an der Anekdoten-Evidenz. Aber leider nicht nur.) Wer weniger weibliche Wut fordert, der möge sich vorstellen, was geschehen würde, wenn Männer sich anhören müssten, was Frauen vor die Füße gekippt wird – die Brüllerei hätte uns längst taub werden lassen.

Stichwort Bühnenprogramm: ICH ALS FEMINIST begeistert mich durch seine Direktheit und sarkastische Schnodderigkeit. Es gibt sicher Analysen, die akademisch wertvoller sind; Lensi Schmidt arbeitet nicht mit Fußnoten, sondern mit Speicheltröpfchen, und wenn die fliegen, muss man(n) sich in Acht nehmen. Da ist sie wieder, die Wut. Und ich finde sie … großartig! Umso mehr hat mich das letzte Kapitel betroffen gemacht, in dem die Autorin nicht etwa den Vorhang fallen lässt, sondern uns einen Blick hinter die Bühne gewährt. Mein Gefühl ist: Wäre ich ihr Lektor gewesen, ich hätte dafür plädiert, dies an den Anfang zu stellen; es gibt dem Buch eine weitere Ebene.

„ICH ALS FEMINIST“ ist kein Schonwaschgang, aber manchmal braucht man einfach 95 Grad und 1.400 Umdrehungen

Natürlich bin ich beim Lesen ins Straucheln gekommen – sage ich nicht auch leichthin, dass Vergewaltiger Monster sind … und mache es mir damit leicht? Und habe ich in dem Picasso zugeschriebenen Zitat „Es gibt nur zwei Sorten von Frauen: Göttinnen – und Fußmatten“ das Problem bisher nur bei der Abwertung gesehen, nicht bei der Überidealisierung?

Denken macht das Leben schöner, und man kann ICH ALS FEMINIST als Einladung genau dazu verstehen. Ich stimme nicht in allen Punkten mit Lensi Schmidt überein, aber sie hat mich zum Grübeln gebracht und sehr oft zum Nicken. Natürlich ist der Gedanke unschön, dass niemand von uns – angesichts der Zahl der Delikte, denen Frauen ausgesetzt sind – sich in der Sicherheit wiegen kann, dass so etwas aus dem eigenen männlichen Freundeskreis heraus nicht passieren würde; wir müssen alle aufmerksam(er) sein.

Das ist, wenn man Schmidt folgt, aber nur die Hälfte der Aufgabenstellung: Man muss etwas dagegen tun. Dem stimme ich zu – wir sind alle dafür verantwortlich, mit Anstand durchs Leben zu gehen und alle Frauen, Männer und Menschen jenseits dieser Parameter mit Respekt und Fairness zu behandeln.

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Ich habe dieses Buch nicht selbst gekauft, sondern vom Verlag als Rezensionsexemplar erhalten. Bei meiner Rezension handelt es sich trotzdem nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung, sondern sie gibt lediglich meine Meinung wieder.

Lensi Schmidt: „ICH ALS FEMINIST.“ 70 Dinge, die wir bei Männern nicht mehr ertragen. Gutkind Verlag, 2025.