Ich bin vermutlich zu alt für das Buch, aber gerade deswegen auch sehr begeistert

„Mein Leben war kein Film, aber ich verhielt mich wie die Hauptfigur. Die Realität war unzusammenhängend, wirr, selten belohnend, manchmal wilder und witziger als alles Ausgedachte, aber immer ein wesentlich schlechter erzähltes Reality-Format.“

Um dieses Buch bin ich herumgeschlichen, weil alles zu sagen schien, dass es nichts für mich ist – die Autorin zu hip, der Umschlag zu irgendwas, und überhaupt, diese kurzen Kapitel, das ist doch kein Roman, das ist ein Coolness-Manifest, für das ich zu früh geboren wurde. Meine Abwehrhaltung hatte aber ein Problem: Fast alle Textstellen, die ich da und dort aufschnappte, waren so gut, dass ich KLARKOMMEN viermal im Buchhandel auf den Stapel zurücklegte, bis ich doch zur Kasse ging … und nun restlos begeistert bin.

Irgendwo zwischen der Kindheit, bei deren Beschreibung die Abwesenheit von Verpflichtungen oft mit Glück verwechselt wird, und dem Erwachsensein, das eher weniger mit rosaroten Wolken assoziiert werden kann, wabert die Jugend, von der vermutlich niemand so ganz genau zu sagen vermag, wann sie anfängt – und vor allem, wann sie aufhört. Die Ich-Erzählerin, ihre nicht ganz so heimliche Liebe Leon und die gemeinsame Freundin Mounia wähnen sich mittendrin, haben mit dem Ende der Schule und dem Neustart in Berlin aber möglicherweise schon die Abenddämmerung erreicht. Zumal sich die Unbeschwertheit, die sie fernab der öden Schuljahrgangsstufe und ihrer Kinderzimmer erhofft haben, nur für Leon einstellt.

KLARKOMMEN wird im Rückseitentext als „Entlastungsliteratur für alle“ definiert, die „nicht so leicht frei und jung sein können oder konnten, wie sie gerne gewesen wären“. Das trifft es hervorragend, ist aber natürlich nur die halbe Wahrheit.

Wie mit einer Taschenlampe statt dem grellen Scheinwerfer leuchtet Hartmann in ihren zum Teil nur wenige Wörter langen Kapiteln die Fragezeichen der Ich-Erzählerin aus, stilisiert sie zur unsicher lächelnden Schutzheiligen der Nachwuchs-Stadtneurotiker*innen. Nicht schlau genug, nicht cool genug, nicht fest genug und mit beiden Beinen im Leben stehend, so haben wir uns vermutlich alle schon gefühlt, auch wenn wir nicht auf Punkkonzerte gegangen sind oder unseren Lieblingshocker in einer Absturzbar gefunden haben. KLARKOMMEN ist ein Buch, das sicher vor allem denjenigen aus der Seele sprechen soll, die in den 1990er Jahren geboren wurden, aber man darf sich auch gemeint fühlen, wenn man wie ich 1970 geboren wurde und sicher auch, wenn man erst Anfang der 2000er auf die Welt gekommen ist; Hartmann schafft es, sehr zeitgeistig zu sein, während sie das Konzept gleichzeitig ad absurdum führt.

Bei der auf andere Art wunderbaren Sophie Passmann, deren KOMPLETT GÄNSEHAUT deutlich mehr auf eine konkrete Zielgruppe hingeschrieben scheint, habe ich Leser von geringem Verstand oft den Eindruck, dass ihre textbasierte Verletzlichkeit auch eine latente „Auffe Fresse, Alter?“-Standfestigkeit hat; Ilona Hartmann kaufe ich dagegen die Nöte der Erzählerin genauso ab, wie sie sich auf 188 luftig gesetzten Seiten entmauerblumt. Und das, obwohl ich sonst eher ungehalten bin, wenn mit dem Uncoolsein kokettiert wird, um das Gegenteil und die eigene Street Credibility zu unterstreichen. Würde ich dazu neigen, mit Textmarkern in Büchern alles anzustreichen, was ich mir gegebenenfalls auch auf ein T-Shirt drucken lassen würde: Dieses hier würde leuchten wie eine Frühlingswiese.

Man soll das Jahr nicht vor dem Herbstprogramm loben, aber ich lege mich fest: KLARKOMMEN wird zu den besten Büchern gehören, die ich 2024 lesen durfte – und der letzte Satz zu den allerbesten Definitionen von Erwachsenwerden, die ich kenne. Applaus!

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Ich habe dieses Buch selbst gekauft; es handelt sich bei dieser Rezension also nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung, sondern sie gibt lediglich meine Meinung wieder.

Ilona Hartmann: Klarkommen. Park X Ullstein Verlag, 2024