Mit 6 AUS 49 legt Jacqueline Kornmüller einen Roman vor, der auch all die Lesenden begeistern wird, die auf das nächste Buch von Mariana Leky warten.
„Irgendetwas brauchte jeder Ort, womit man kuren konnte, mal war es ein Kloster, mal ein See, mal eine Quelle. Wenn man weder ein Kloster noch einen See oder eine Quelle hatte, hatte man zumindest noch die Luft. Und so warben viele süddeutsche Orte damit, ein Luftkurort zu sein. Die Süddeutschen nennen die Touristen ihm Geheimen deshalb Luftdeppen, weil sie allen Ernstes an die Sache mit der Luft glauben, aber das bleibt unter uns.“
Erst gab’s zwei Orte, dann kam der Bindestrich, und dort ist nun auch sie hingeraten: Lina, die in den 1920er Jahren mit ihrer besten Freundin Maria nach Garmisch-Partenkirchen kommt, dort zuerst in einem der Hotels arbeitet und dann im Haus Amalie selbst Zimmer vermietet. Sie ist eine bemerkenswerte Frau:
„Ihr Lachen klingt wie eine Glocke. Ihr Lachen stößt alles Dunkle ab. Obwohl sie ihre große Liebe verlor, nicht an den Tod, sondern an eine wirre Zeit, eine Kriegszeit, die alles auf den Kopf stellte und alle Existenzen vernachlässigte. Obwohl sie Zeit ihres Lebens um ihre eigenen und alle anderen ihr anvertrauten Existenzen kämpfte, und nicht zuletzt auch um meine, ließ sie sich von ihrer unbedingten Zuversicht nicht abbringen.“
Lina hätte sicher viele Gründe, sich zu beschweren, aber sie tat es nicht, und das liegt nur zum Teil daran, dass sie zu einer Generation gehört, in der das nicht vorgesehen war: Die harte Arbeit, die das Vermieten, das Gastgeben, das Achtgeben auf die Menschen bedeutet, ist mehr als ein Beruf, und wenn Lina sich an Zarah Leander erinnert, einen ihrer berühmtesten Gäste, oder an all diejenigen, die von der Nachwelt vergessen worden sind (aber ganz sicher nicht von ihr), dann fühlen wir Lesenden ganz unmittelbar, dass das ihre Berufung war. Und dass sie nie richtig Englisch gelernt hat, aber immer mit ihren fremdsprachigen Gästen reden konnte? Da halfen guter Wille, Mut zur Lücke und eine Herzlichkeit, die nun auch von den Seiten des Romans auf uns überspringt. (Und weil noch so viel hüpft und wogt und in mir nachhallt aus diesem Buch, kann es nachfolgend Spoiler geben.)
Fangen wir mit der Autorin an:
Jacqueline Kornmüller studierte an der berühmten Folkwang-Schule, um Schauspielerin zu werden, und arbeitete als preisgekrönte Theaterregisseurin; so inszenierte sie beispielsweise 2022 in Wien die Welturaufführung von „Die unheimliche Bibliothek“ nach der Novelle von Haruki Murakami. Dass ihr Roman größtenteils dort spielt, wo sie selbst geboren wurde – nämlich im bereits erwähnten Ort mit dem Bindestrich – ist kein Zufall, denn in 6 AUS 49 erzählt sie vom Leben ihrer Großmutter, jener Lina, die wir schon nach wenigen Seiten ins Herz geschlossen haben. Warum ich diesen realen Bezug erwähne? Weil ich zunächst gar nicht geahnt habe, dass es sich um ein autofiktionales Buch handelt, so besonders sind seine Geschichte und Hauptprotagonistin.
Die Autorin erzählt aber nicht nur von Lina und Maria (die einen eigenen Roman verdient hätte), sondern zieht Kreise: So lernen wir auch Hedy kennen, die eine Leihbücherei eingerichtet hatte – doch in der Zeit, in der das Garmischer Tageblatt verkündet „Die Juden-Abwehrschilder sind da!“, wird sie nachts von einem Mob aus ihrem Bett gezerrt. Ein Bild, was ich sicher nie wieder aus dem Kopf bekommen werde: Ihr deutscher Mann weiß sich nicht anders zu helfen, als seine Uniform aus dem Ersten Weltkrieg anzuziehen und die Orden anzulegen, die ihm das „Vaterland“ verliehen hat, aber auch das schützt sie nicht.
Das Grauen des Dritten Reichs, aber auch der Wahnsinn, dass es vielerorts nach dem Krieg einfach weiterging wie für den Bürgermeister von Garmisch-Bindestrich-Partenkirchen, wird gerade deswegen so spürbar, weil Jacqueline Kornmüller alles klar benennt, aber durch die Mischung aus Präzision und einem weichen Erzählton dafür sorgt, dass wir uns nicht wegducken können.
Muss man sich in einem autofiktionalen Text die Frage stellen, was wahr ist und was nicht?
Nachdem ich verstanden hatte, dass 6 AUS 49 nicht rein fiktiv ist, kam ich leider nicht umhin, mich dem Text anders zu nähern, was sicher mein Fehler ist – denn was geht es uns an, was hier wahr ist und was auf wunderbare Art erfunden? So wie Lina auch dürfen wir gerne glauben, dass es Thomas Mann war, der einst auf der Terrasse des Haus Amalie saß … auch wenn das Internet später behaupten wird, dass es „nur“ sein Bruder Heinrich war, der den Weg nach Garmisch-Partenkirchen gefunden hat.
Ein Detail, um das wir uns sicher Gedanken machen sollen: Die Mutter der Erzählerin wird im Buch nur „Linas Tochter“ genannt, und es bleibt offen, ob ihre Tochter ihr den eigenen Namen vorenthalten will – oder dadurch unterstreicht, dass ihre Mutter ein Leben lang im Schatten Linas stand und sicher auch haderte mit der Frau, der das Glück stets zuzufallen schien. Oder zumindest das Glück, das es bedeutet, nicht unglücklich zu werden ob diverser Schicksalsschläge; das Glück, aus dem Handgelenk zwei Sechser zu würfeln und mit den kleinen Segnungen zufrieden zu sein, weil man nur so die großen findet.
Überzeugt 6 AUS 49 auch stilistisch?
Als Regisseurin ist Jacqueline Kornmüller es gewohnt, eine Geschichte auf die Bühne zu bringen. Wie nähert sie sich nun einem Text, der ohne Bühnenbild und Schauspielende auskommen muss? Klar und doch schwebend, vor allem zugewandt, durchzogen von einem dunklen Klang, der nicht raunt und trotzdem wärmt; man darf sicher an Mariana Leky denken oder auch an „Die fabelhafte Welt der Amélie“ – wenn eine Fliege, berauscht vom Duft aus der Küche, ein Bild entdeckt, unter das Glas kriecht, zu der Kirche gelangen will, die von Linas großer Liebe gemalt wurde … und das mit dem Leben bezahlt. Oder um ein weiteres Beispiel zu nennen:
„Ich setze mich ans Klavier, ein grüner Hocker steht davor, ich lasse mich darauf fallen und drehe mich nach unten, immer tiefer und tiefer, um mit den Dingen zu sprechen, die den Raum beleben. Die chinesische Vase, das Bild vom Charlottenburger Schloss und andere Zufälligkeiten, die mir auf meiner Reise hinab begegnen. Die chinesische Vase sagt, dreh dich, dann siehst du meine Blumen tanzen. Und ich sehe die Blumen tanzen. Wenn der Drehstuhl stoppt, dreh ich ihn in die Gegenrichtung, jetzt sieht alles anders aus. Wie ein Maulwurf grabe ich mich in die Vergangenheitsecken meiner Familie hinein.“
Es ist ein Vergnügen, sich in diesen Text fallen zu lassen, der trotz harter Themen so weich ist wie eins der Oberbetten, für die Maria bekannt werden wird. Und immer wieder gibt es diese kleinen Momente, die zumindest mich Lesenden von geringem Verstand innehalten lassen:
„Ich verlasse das Haus, gehe vorbei an den Tannen, die längst gefällt worden sind. Hinaus auf die Straße, die mich noch erkennt, ich suche den Weg mehr, als ich ihn finde.“
Wenn wir die Einladung erhalten, uns zu verlieren in dem, was eine Autorin geschrieben hat, und dem, was es in unserem Kopf auslöst, dann ist das ein Geschenk für alle, die von einem Buch mehr wünschen als nur eine Geschichte, die fesselt und mitreißt.
Wie verwebt man das, was war, mit dem, was hätte sein können?
„Als ich anfing, mich zu erinnern und zu erinnern, konnte ich Räume zunächst nur schemenhaft wahrnehmen.“ Wie bereits erwähnt: Autofiktionale Geschichten spielen immer damit, dass wir Lesenden nie wissen – und auch nicht wissen müssen –, was wahr ist und was nur deswegen so erinnert wird, damit es in einen Roman fließen kann. Aber wie nähert man sich dieser Aufgabe? Die Autorin beschreibt es so:
„Ich entdecke Gerüche wieder, finde verborgene Schubladen und kann Aufschriften lesen. Es ist, als ob ich mit den Füßen in einem See stehe und langsam, ganz langsam Fische an mich heranschwimmen. Zunächst sind es nur kleinste, allerkleinste Erinnerungsfische, die an meine Füße stoßen und irgendetwas daran finden. Sauerstoff vielleicht. Wenn ich ganz still stehe, wagen sich auch größere Fische an mich heran. Silberne Fische, die Vertrauen schöpfen.“
6 AUS 49 ist nicht nur die Geschichte von Lina und all der Menschen, die ihr Leben gestreift haben, sondern auch die der Erzählerin, die Jacqueline heißt und vermutlich auf die eine oder andere Weise deckungsgleich mit der Autorin ist, aber wer weiß das schon. So, wie sie in diesem recht schmalen – und doch perfekt abgemessenen – Band vor allem besondere Momente aus Linas Geschichte vor dem Vergessen bewahrt, verrät sie auch in Schlaglichtern, was in ihrem Leben geschah. Gefühlt nimmt dabei eine kurze, aber verstörende Gewalterfahrung viel Raum ein, sodass ich mich kurz fragte: Wie passt das zusammen mit der Geschichte von Lina, warum muss das in diesem Buch erzählt werden? Aber dann wird am Ende dieser Erinnerung, ob sie nun wahr ist oder nicht, ein gelbe Müllabfuhrjacke zum Symbol für etwas, das so hell leuchtet, dass wir uns alle wünschen, man könne sie an uns weiterreichen. Also, diese Jacke. Idealerweise ohne die Gewalterfahrung, natürlich.
Wäre dieser Roman ein Bühnenstück, der Vorhang würde sich am Ende immer wieder heben, damit Jacqueline Kornmüller unseren Applaus entgegennehmen kann.
„Das Jahr bei Schwester Adelheid ging vorüber“, schreibt Jacqueline Kornmüller über ihre Zeit an einer von Nonnen geführten Schule, „es war ein gutes Jahr. Ich möchte mich posthum bei ihr bedanken, dass sie mir prophezeite, dass ich nie in den Himmel kommen werde. Das hat vieles möglich gemacht, auch das Fliegen.“ Und wir, die nach 224 beseelt wieder auftauchen aus 6 AUS 49? Sind Schwester Adelheid ebenfalls zu Dank verpflichtet, denn diesen Roman kann es nur geben, weil Jacqueline Kornmüller wohl tatsächlich Flügel hat.
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Ich habe dieses Buch nicht gekauft, sondern als Rezensionsexemplar vom Verlag erhalten. Bei meiner Rezension handelt es sich trotzdem nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung: Sie gibt lediglich meine subjektive und unbeeinflusste Meinung wieder.
Jacqueline Kornmüller: 6 AUS 49. Galiani Berlin, 2025
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