Douglas Stuart hat einen hervorragenden Roman geschrieben, in dem aber selten die Sonne scheint

„Mo-Maw war wie eine Marionetten-Spielerin, sie hielt [Mungos] verhedderten, verknoteten Schnüre in der Hand. Sie war der Antrieb hinter jeder seiner Gesten: das schüchterne Lächeln, die zuckenden Nerven, das zwanghafte Beißen, die Angst, die Freundlichkeit, die Art, wie er sich in jedem Raum kleiner machte, das wachsame Abwarten, bevor er sich zu irgendetwas bekannte, das Wohlwollen, sein großes, großes Herz.

Oft bewunderte Jodie ihn dafür, aber meistens machte es se wütend: wie er Mo-Maw mit Liebe überschüttete, ohne irgendetwas dafür zu bekommen.“

Wenn man sacht mit den Fingerspitzen über einen Pflasterstein fährt, über seine Unebenheiten und polierten Flächen, wenn man ihn in der Hand wiegt und sein Gewicht, seine Kompaktheit spürt, dann kann dies ein zärtlicher Moment sein – der eine Sekunde später ausgelöscht wird, wenn man den Pflasterstein nutzt, um damit in ein Gesicht zu schlagen, wenn man den festen Willen hat, damit zu zerstören. Daran musste ich denken, während ich YOUNG MUNGO las, ein Buch, dem man einen Chor aus Triggerwarnungen voranstellen könnte, denn der schottische Autor Douglas Stuart lässt nichts aus: Vergewaltigung, Kindesmissbrauch in allen Formen und Härtegraden, Hoffnungslosigkeit und Gewalt, Homophobie, Alkoholismus … sogar Tierquälerei wird am Ende nicht fehlen. Wer sich davon nicht abschrecken lässt, dem wird ein (über die pure Eindringlichkeit hinaus) besonderes Leseerlebnis geschenkt, das mich immer wieder atemlos und auch verblüfft zurückgelassen hat.

Das Glasscherbenviertel von Glasgow in den 90er Jahren: Die heranwachsenden Kinder der Alkoholikerin Maureen Buchanan haben unterschiedliche Wege gewählt, um sich gegen die Lebensuntüchtigkeit ihrer Mutter zu wappnen – Hamish, der Älteste, ist zum Schläger geworden, der die lokale Gang mit harter Hand regiert und im Einklang mit der toxischen Welt um sich herum keine andere Wahrheit kennt, als Unsicherheit jeder Art mit maximaler Brutalität auszumerzen; Jodie, die Tochter, versucht, in die Rolle einer Erwachsenen zu schlüpfen, um ihr Leben so zusammenzuhalten, während sie von einer besseren Zukunft träumt; und schließlich ist da Mungo, der Jüngste, benannt nach einem Heiligen, sanft, verstört, zumeist gleichgültig gegenüber den Verletzungen, die ihm von allen Seiten zugefügt werden, und trotz aller Trostlosigkeit mit einem kleinen, harten Kern gesegnet, von dem wir Lesenden hoffen, dass die vielen feinen Haarrisse ihn niemals zerbrechen lassen werden. Als er den Nachbarsjungen James kennen- und sehr bald lieben lernt, ist dies mehr als nur ein Hoffnungsschimmer, es ist ein warmer, honiggoldener Filter, der sich über die Schnittkanten legt … und der, wie könnte es anders sein, flüchtig ist.

Auf zwei Zeitebenen entfaltet sich eine Tragödie, die kaum einen Abgrund ausspart und es trotzdem schafft, Zwischentöne in das harte Schwarzweiß zu mischen: Wir dürfen Maureen – und vor allem Hamish – hassen, obwohl wir verstehen, warum sie so geworden sind; wir dürfen Jodie bewundern, wir sind allzu bereit, ihr die Fehler, die sie begeht, zu verzeihen, aber der Autor macht aus ihr keine Leidensfigur mit Heiligenschein, sondern lässt sie in einem entscheidenden Moment das denkbar Dümmste sagen, weil es für eine Figur dieser Welt in der damaligen Zeit kaum eine andere Möglichkeit gab. Und Mungo, nun … wie oft möchte man ihn schüttelt und anbrüllen. Aber es gilt, was die liebenswerte Nachbarin der Familie in einer dramatischen Situation sagt: „Wenn einer was davon versteht, jemanden, den man liebt, in Schutz zu nehmen, dann ihr. Könnt ihr mir das nich verzeihen?“

Sophie Zeitz hat die 414 Seiten fließend und ohne Stolpersteine übersetzt und dabei einen für mich schlüssigen und unaufdringlichen Weg gefunden, den Slang des Glasgower Arbeitermillieus ins Deutsche zu übertragen. – In diesem Zusammenhang: Es fällt schwer, sich YOUNG MUNGO ohne das Umschlagfoto von Wolfgang Tillmanns vorzustellen, und vielleicht hätte ich das Buch ohne diese Venusfliegenfallenblüte nicht lesen wollen – was ein Verlust gewesen wäre, zumal mir der Roman auch vorgeführt hat, dass ich (Asche herbei und Schande über mein Haupt) im richtigen Kontext doch dazu neige, Selbstjustiz und Gewalt für ein sehr probates Mittel zu halten.

Douglas Stuart hat seinen Roman meiner Meinung nach hervorragend ausbalanciert – der grauen Trostlosigkeit, die mich immer wieder erschüttert, aber nie zu Boden gerungen hat, stehen zärtliche, verspielte, sinnliche Momente gegenüber; Gewalt ist allgegenwärtig, wird teilweise aber auch gnädig ausgeblendet; dass die einzigen beiden Figuren, die nicht beständig andere Menschen instrumentalisieren, der schwule Nachbar und James sind, hat mein Herz ebenso berührt wie der kurze Moment des Erkennens, dass dessen Mutter wusste, wie es um ihren Sohn bestellt war, und vielleicht kein Problem damit hatte. Und das Ende? Ach. Das Ende, man kann es vermutlich hassen und lieben, und ich bin irgendwo dazwischen, mit deutlichem Hang zum hoffnungsvolleren letztgenannten.

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Ich habe dieses Buch selbst gekauft; es handelt sich bei dieser Rezension also nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung, sondern sie gibt lediglich meine Meinung wieder.

Douglas Stuart: YOUNG MUNGO. Aus dem Englischen von Sophie Zeitz. Hanser Berlin, 20223