Ein hochemotionaler Page Turner voller Sinnlichkeit – Tränen garantiert!

„Stell dir vor, wie eine stille, vergessene Stadt sich langsam auf dem Grund eines Sees zersetzt, der früher einmal ein Fluss war. Wenn du dich dann fragst, ob die Freuden und Schmerzen eines Ortes weggespült werden, wenn die Wasser steigen und alles verschlingen, dann kann ich dir sagen, nein, das werden sie nicht. Die Landschaften unserer Jugend erschaffen uns, und wir tragen sie in uns. Alles, was sie uns gegeben und genommen haben, ist in der Person eingeschrieben, zu der wir herangewachsen sind.“

Zugegeben: Ich hätte dieses Buch vermutlich nie gelesen, wäre es nicht das Geschenk einer Freundin gewesen – weder spricht mich der seltsam uninspirierte Umschlag an noch der Werbetext –, aber heissa-hopsa-lillebror, was wäre mir entgangen! SO WEIT DER FLUSS UNS TRÄGT von Shelley Read hat mich gefangen genommen, mitfiebern lassen und tief bewegt; ich habe manche Figuren gehasst (und zwar so richtig), um andere gebangt und am Ende tatsächlich geheult vor lauter Aufregung und diesem „Wohin mit den Gefühlen, ach herrje, nun raus damit“, das ihr doch auch kennt, oder?

Zum Inhalt: In den 1940er Jahren wächst Victoria auf einer Obstfarm im Niemandsland von Colorado auf; das Leben ist hart, die Menschen sind es auch, und als eine zufällige Begegnung einem Sonnenstrahl gleicht, der unerwartet durch dichte Wolken bricht, ahnt man: Das kann nicht gut gehen … und das wird es auch nicht.

Würde man den von Wibke Kuhn übersetzten, 327 Seiten umfassenden Roman mit kritischer Distanz betrachten wollen, es gäbe einiges, was wenig schmeichelhaft klingen mag: SO WEIT DER FLUSS UNS TRÄGT ist zumeist vorhersehbar, Shelley Read arbeitet etwas zu verlässlich die Eckpunkte einer Torture-Porn-Geschichte ab (hat aber ein feines Gespür dafür, uns Lesende nie zu nah an den Rand der Belastbarkeit zu führen) und ist dabei so kommerziell, dass es unangenehm sein könnte … wenn, ja WENN es nicht so ein herrliches Vergnügen wäre, sich hemmungslos in all dies fallen zu lassen. Grandiose, von einer berauschenden Sinnlichkeit getragenen Naturbeschreibungen, wunderbare Nebenfiguren (Ruby-Alice! Zelda!), leise Momente, die so glücklich machen wie die saftigen Pfirsiche, die man während der Lektüre oft selbst zu schmecken scheint: Dies ist der perfekte Sommerschmöker!

Vielleicht werden andere Lesende Parallelen ziehen zum GESANG DER FLUSSKREBSE, da muss ich mich enthalten, weil ich’s nicht gelesen habe. Aber es passt sehr gut, dass Bonnie Garmus ein lobendes Zitat zur Verfügung gestellt hat, denn wie EINE FRAGE DER CHEMIE ist auch SO WEIT DER FLUSS UNS TRÄGT ein Buch, bei dem man den alltagsumrauschten Kopf für allerbeste Lesestunden abstellen kann: Dieser Roman hat viel Herz – und dieses noch dazu am rechten Fleck, wie ich finde.

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Ich habe dieses Buch von einer Freundin geschenkt bekommen, die beim Verlag arbeitet; es handelt sich bei dieser Rezension trotzdem nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung, sondern sie gibt lediglich meine Meinung wieder.

Shelley Read: SO WEIT DER FLUSS UNS TRÄGT. Aus dem Englischen von Wiebke Kuhn. C. Bertelsmann Verlag, 2023