Eine Neuerzählung des Medusa-Mythos
„Und wer bist du zu entscheiden, wer ein Monster ist?“, unterbrach ihn der Götterbote. – „Sie hat sie als Monster bezeichnet.“ Perseus deutete auf Athene. – „Nein, habe ich nicht“, widersprach sie. „Ich habe sie als gefährliche Kreaturen bezeichnet, was sie auch sind. Du bist derjenige, der denkt, dass alles, was nicht so aussieht wie du, ein Monster sein muss.“
Wenn man dem Werbetext glauben darf, hat Margaret Atwood STONE BLIND: DER BLICK DER MEDUSA als „klug, fesselnd, kompromisslos“ bezeichnet, und während ich mir als Leser von begrenztem Verstand nicht anmaße, über den ersten Punkt zu urteilen, kann ich die nachfolgenden unterstreichen, insbesondere die Kompromisslosigkeit. Aber dazu später mehr … und: Obacht, Spoilers ahead.
Auf den von Babette Schröder und Wolfgang Thon fließend ins Deutsche übersetzen 365 Seiten erzählt Natalie Hayes routiniert vom Schicksal der Gorgone, deren Name im Gegensatz zu ihr unsterblich ist: Medusa, die Frau mit dem Schlangenhaar, deren Blick jedes Lebewesen zu Stein erstarren lässt … und die folgerichtig von einem Helden getötet werden muss. So will es die Standarddramaturgie, so will es das altehrwürdige (und ehrlose) patriarchale Weltbild, aus dem viele Mythen entspringen, während sie gleichzeitig das Werkzeug waren und sind, um es zu errichten und zu festigen.
Anders als von mir erwartet erzählt Hayes in ihrem Roman nicht nur die schicksalshafte Geschichte der Medusa, sondern holt dankenswerterweise weit aus – die Zeus’sche Schändung der Okeanide Metis, besser bekannt als Mutter der Göttin Athene (die ich, möglicherweise nicht ganz im Einklang mit meiner feministischen Grundeinstellung, nur noch als „blöde Plunze“ bezeichnen möchte), und der Wahn des Königs Akrisios, seine Tochter zunächst einmauern und dann in einem schwimmenden Sarg auf dem Meer aussetzen zu lassen, spielen entscheidende Rollen in dieser (im wahrsten Sinne) griechischen Tragödie über toxische Männlichkeit und Machtmissbrauch in all ihren grausam schillernden Facetten.
Hayes versteht sich auf raunende Momente, die natürlich an CIRCE von Madeline Miller denken lassen, und lenkt durch eine geschickte, temporeiche Konstruktion davon ab, dass ihre Figuren eindimensional bleiben. Wäre es schlauer gewesen, die Geschichte der Hauptfigur nicht ganz so nah an der Überlieferung zu halten – und spannender, die alten Bilder von den züngelnden Schlangen und dem Blick, der versteinern lässt, durch das zu übermalen, was es ursprünglich gewesen sein mag, nämlich die männliche Interpretation von weiblicher Unangepasstheit und Stärke? Aber das hätte einen subtileren Umgang mit dem Thema vorausgesetzt, und Hayes arbeitet – vermutlich aus Überzeugung und nicht aus Mangel an Möglichkeit – zumeist mit dem Holzhammer statt dem Schmirgelpapier.
Mein kleines wundes „Ich will es lieber schön haben“-Herz hatte gehofft, dass Haynes sich spätestens in dem Moment, in dem Perseus sein Schwert schwingt, von der Vorlage gelöst und eine alternative Geschichte erzählt hätte; in gewisser Weise tut sie dies auch (denn, Stichwort Kompromisslos: Medusa wird sterben – aber damit ist ihre Geschichte noch nicht zu Ende) … allerdings eher im Rahmen der Mythenpflege und weniger als Fortschreibung einer archaischen Idee in einem neuen Wertekosmos.
STONE BLIND: DER BLICK DER MEDUSA ist ein Roman, den man entspannt nebenbei lesen kann, wenn man sich für die Figuren der griechischen Mythologie begeistert – und auch wenn mir leider ein gewisser Nachhall fehlt, werde ich das Buch in positiver Erinnerung behalten.
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Ich habe dieses Buch von einer Freundin geschenkt bekommen, die beim Verlag arbeitet; es handelt sich bei dieser Rezension trotzdem nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung, sondern sie gibt lediglich meine Meinung wieder.
Natalie Haynes: STONE BLIND: DER BLICK DER MEDUSA. Aus dem Englischen von Babette Schröder und Wolfgang Thons. dtv, 2023
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