Die Verlagsszene von Paris, moderne Hexen und Champagner-Laune beim Lesen

„Ihr Mund ist etwas trocken, darin der Geschmack von Trauer. Dies ist eine Geschichte über blaue Flecken, über ein Herz voller Blutergüsse. Adélaïde Berthel, eine Frau wie alle anderen. Die sich zusammengekrümmt hat, aber wieder hochkommen muss.“

Es fällt möglicherweise nicht auf, aber ich bin keine Singlefrau Mitte 40, sondern ein verheirateter Mann Anfang 50, und mit meiner Meinung zu diesem Roman begebe ich mich daher eventuell auf dünnes Eis; ich gehe jetzt einfach einmal davon aus, dass es sich damit verhält wie mit der Zuckerkruste einer Crème Brûlée (= wenn’s leise knackt, wird’s richtig gut). Und darum: Was für ein wunderbar kurzweiliges und kurzes Wochenendbuch, geprägt von Arroganz, hinterhältiger Komik, in seiner Überstilisierung ganz eigenen Wärme – und noch dazu eins, das man auf verschiedene Art lesen kann.

Chloé Delaume, in Frankreich laut Klappentext bekannt und preisgekrönt, erzählt von Adélaïde Berthel, 46, Pressefrau bei einem Pariser Verlag, Teil eines vibrierenden Freundinnen- und Gelegenheitshexen-Kreises, frisch getrennt und doch schon wieder vom „Heiratsjucken“ befallen, jenem Verlangen, in der mutmaßlichen Geborgenheit einer Zweierbeziehung anzukommen. Das Buch lässt von Anfang an keinen Zweifel daran, dass sich dieser Wunsch nicht erfüllen wird … und hier wird es nun interessant, denn: Wer spricht da eigentlich zu uns, und wie?

Ist es die Autorin selbst (Jahrgang 1973) oder eine allwissende Erzählerin, die deutlich jünger oder älter sein kann, und welche Haltung nimmt sie gegenüber ihrer Hauptfigur ein: Ist Adélaïde in ihrem verzweifelten Hoffen auf einen Mann, der sie aus der eigenen Bedeutungslosigkeit errettet, eine bemitleidenswerte Karikatur, die mit spitzer Stimme vorgeführt wird (und ihre Katze Perdition nennt, also „Verderben“)? Oder ist der Gauloises-geschwängerte Ton, der hier mutmaßlich über einem Glas Champagner angeschlagen wird, trotz spöttisch erhobener Augenbraue doch zugewandter? Kann es das eine möglicherweise nur durch das andere geben, als Entwicklungsgeschichte?

Man darf das Buch vermutlich so oder so oder so verstehen, als Leser von geringem Verstand empfehle ich letzteres, und so viel sei verraten: Am Ende wird es, wenn man dafür empfänglich ist, wunderbar, weil gleichzeitig aussichtslos und aussichtsreich, und traurig und warmherzig und HACH.

DAS SYNTHETISCHE HERZ – von zwei möglichen Stolpersteinen auf Seite 14 abgesehen elegant von Claudia Steinitz aus dem Französischen übersetzt – hat mich auf seinen 157 Seiten hervorragend unterhalten, ein paar Mal berührt („Liebe ist, wenn sich zwei Einsamkeiten dabei überraschen, einander erzittern zu lassen.“) und durchgehend amüsiert („Was hast du mit den Molchaugen gemacht?“): Delaume fängt die dezente Überspanntheit, die ich mit den Schönen und Intellektuellen von Paris verbinde, perfekt ein, ohne dabei Gefahr zu laufen, schrill zu werden; sie versetzt der Verlagsbranche und Literaturszene ein paar wohlplatzierte Seitenhiebe (Es gibt sogar einen Preis für die beste Seite 111?) und hat in mir, obwohl ich meine Couch doch eigentlich altmännerbräsig für den besten Samstagabendort halte, den Wunsch geweckt, mich doch noch einmal auf einer überfüllten Wohnungsparty durch den Flur zu quetschen. Chapeau, Applaus und gerne mehr davon!

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Ich habe dieses Buch selbst gekauft; es handelt sich bei dieser Rezension also nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung, sondern sie gibt lediglich meine Meinung wieder.

Chloé Delaume: DAS SYNTHETISCHE HERZ. Aus dem Französischen von Claudia Steinitz. Liebeskind Verlag, 2022.