Es hätte einer der besten Unterhaltungsromane des Jahres werden können – aber leider wollen die STROMLINIEN dann ein reißender Fluss werden

„Einen Moment lang sah mich Oma Ehmi blass und überfordert an. Es war schon das zweite Mal innerhalb kürzester Zeit, dass ich unsere ungeschriebenen Gesetze brach und Dinge aussprach, die in diesem Haus normalerweise verschwiegen wurden. Doch ich würde Ehmi jetzt mit Sicherheit nicht zu Hilfe kommen. Wenn hier irgendetwas wegen meiner Fragen zusammenbrach, dann hätte es schon viel früher zusammenbrechen sollen. Ich hatte große Lust, endlich alles einzureißen. Wir hatten genug geschwiegen.“

Fangen wir mit dem Applaus an: Die erste Hälfte von STROMLINIEN hat mich komplett begeistert, denn es ist ein Vergnügen, sich in den satten Erzählton von Rebekka Frank fallen zu lassen – und gleichzeitig von den mit großer Präzision gesetzten Cliffhangern durch die Handlung gepeitscht zu werden. Umso bedauerlicher finde ich, dass es dann auch noch eine zweite Hälfte gibt, und obwohl die Autorin auch hier ihren unbestreitbaren Qualitäten treu bleibt, steigert sich dort alles zu einem Plot-Armageddon, das sicher viele Lesende begeistern wird („Wow, damit hätte ich jetzt aber wirklich nicht gerechnet“), mich allerdings nach der ersten Irritation zunehmend gestört hat.

Worum geht’s? Enna und Jale, die bisher unzertrennlichen Zwillinge, sind bei ihrer Großmutter in einem kleinen Haus am Deich aufgewachsen – und in ihrem Boot, mit dem sie auf der Elbe fast so zuhause sind wie auf dem Festland. Sie fiebern dem Tag entgegen, an dem ihre Mutter aus dem Gefängnis entlassen wird, in dem auch die Schwestern zur Welt gekommen sind … doch dann kommt es anders: Alea ist zwei Wochen vor dem angekündigten Termin auf freien Fuß gekommen und seitdem verschwunden. Auch Jale ist plötzlich weg. Und während Enna kaum fassen kann, dass ihre Mutter und Schwester von der Polizei plötzlich wegen Mordverdacht gesucht werden, muss sie versuchen, die Geheimnisse ihrer Familie zu ergründen. Von denen gibt es jede Menge …

VON ALLEM EIN BISSCHEN – UM AM ENDE ZUVIEL

Starke Frauenfiguren, schicksalshafte Ereignisse noch und nöcher in der Vergangenheit, dazu der Zauber der Elbe: STROMLINIEN hat wirklich alles, was man sich von einem rasanten Schmöker wünscht, den man vermutlich als „Alena Schröder meets ALTES LAND with a bit of GESANG DER FLUSSKREBSE“ anpreisen kann. Noch dazu gehört der Schutzumschlag mit seiner Veredlung zu den Highlights in diesem Frühjahr – und man möchte denjenigen eine Krone aufsetzen, die sich für das Vor- und Nachsatzpapier auch noch einmal etwas Besonderes ausgedacht haben.

Rebekka Franks Roman ist hervorragend konstruiert; unaufmerksame Lesende mögen vielleicht zwischen den fünf Zeitebenen ins Stolpern geraten, aber mich hat die geschickte Verschachtelung begeistert durch die Seiten fliegen lassen. Die Autorin hat mich noch dazu immer wieder überrascht, wenn sie die Geschichte in andere Bahnen lenkte, als ich erwartet hätte … und vielleicht bin ich Leser von geringem Verstand nach so viel anfänglicher Begeisterung darum auch umso enttäuschter? (AB HIER GIBT ES SPOILER!)

In der zweiten Hälfte des Buchs wird nicht hin und wieder ein weißes Kaninchen aus dem Hut gezaubert, um das Publikum zu verblüffen, sondern es sind ganze Herden von Hoppeltieren, die uns niedertrampeln, inklusive einer unerwarteten Rächerin nebst Stalker-Sidekick, und der Enthüllung, wer die Person ist, die schon vor dem ersten Kapitel ins Wasser geht und deren wasserleichiger Weg in die Weiten des Meeres hinaus immer wieder zwischen die Kapitel gestreut wird. Letzteres ist bewegend, zugegeben. Aber so sehr ich die Gnadenlosigkeit der Autorin ihrer Figur gegenüber bewundere, ich habe es letztendlich doch nur als überdramatisches Ausrufezeichen empfunden.

HAT HIER DAS LEKTORAT DIE GESCHICHTE ZU SEHR GELIEBT UND DIE AUTORIN ZU WENIG GELENKT?

Besonders bedauerlich ist, dass Rebekka Frank dieses effekthaschende Plot-Gewitter überhaupt nicht nötig hat: Die Kapitel, in denen es beispielsweise um den Urgroßvater der Mädchen geht und um ihren Großvater, sind hervorragend und zeigen realistische Figuren in schwierigsten Umständen. Und einzelne Ideen wie ein nächtlicher Anruf, dem eine Frau stumm lauscht, sind absolutes erzählerisches Gold!

Dem gegenüber stehen aber leider neben der Auflösung, wie das alles zusammenhängt, auch noch ein muskelbepackter Feminist mit zwei lesbischen Müttern (nichts gegen Diversity, aber muss es gleich so dick kommen?), eine Frau, deren Schuldbewusstsein keinerlei Grenze zu kennen scheint (nichts gegen Reue, aber hier hat sie ein eigenes Megafon), die bereits erwähnte zu allem entschlossene Rächerin, die auch nach 40 Jahren immer noch hasst wie am ersten Tag, dazu ein fieser Manipulator, der die alte Weisheit „Don’t shit where you eat“ nicht so ganz verstanden zu haben scheint, und, und, UND …

Die Liebe zur Feinarbeit, die das Vorsatzpapier zeigt, hätte ich mir vom Lektorat gewünscht, um Rebekka Frank vor dem Eindreschen auf die Drama-Pauke zu bewahren. Andererseits kann ich mir vorstellen, dass gerade dies viele Lesende begeistern wird; was für Sebastian Fitzeck funktioniert, kann auch hier möglicherweise den Weg auf die Bestsellerliste ebnen? Das würde mich freuen für Rebekka Frank.

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Ich habe dieses Buch nicht selbst gekauft, sondern vom Verlag als Rezensionsexemplar erhalten. Bei meiner Rezension handelt es sich trotzdem nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung, sondern sie gibt lediglich meine Meinung wieder.

Rebekka Frank: STROMLINIEN. Fischer Verlag, 2025.