Eine palästinensische Familiengeschichte
„Die erste Begegnung mit dem Krieg hatte meine Familie, als aus dem Mandatsgebiet Palästina der Staat Israel wurde und als meine Großmutter mit den Kindern schreiend vor Angst unter dem Tisch lag und mein Großvater blutend in einem Krankenhaus um sein Leben kämpfte. Die zweite Begegnung mit dem Krieg hatte sie, als im Jahr 1975 der libanesische Bürgerkrieg ausbrach. Danach folgten noch ein paar weitere Kriege, gefolgt von einer Serie von Autobomben und Anschlägen und einer Handvoll Revolutionen, aber da waren alle schon abgehärtet. Der Fatalismus ist den Libanesen zu eigen, aber perfektioniert haben ihn die Palästinenser, die ihre Resignation stets mit einer Prise Wut und Zynismus würzen. Das taten sie auch, als sie Dreh-, Angel- und Ausgangspunkt des libanesischen Bürgerkriegs wurden.“
Joana Osman, Jahrgang 1982, ist die Tochter eines palästinensischen Vaters und einer deutschen Mutter, sie lebt mit ihrer Familie in der Nähe von München – und erzählt in ihrem zweiten Roman, in dem „Fiktion und Autofiktion verschwimmen“, von „drei Generationen, verbunden durch die tiefe Sehnsucht danach, Wurzeln zu schlagen“, um „ihre eigene Familiengeschichte vor dem Vergessen [zu] retten“. Besser als im Rückseitentext kann man das Buch kaum zusammenfassen; er deutet aber auch an, welche Stolpersteine die Autorin sich meiner Meinung nach selbst in den Weg legt.
WO DIE GEISTER TANZEN ist die Geschichte von Ahmed, dem Großvater der Ich-Erzählerin, ein Kinobetreiber aus Jaffa, der mit der funkelnden Sahiba eine Familie gründet – eine palästinensische Familie, die 1948 aus ihrer Heimat vertrieben wird, in den Libanon flieht und nach einer kurzen Zeit in der Türkei wieder dort strandet. Flucht, bittere Armut, Gefahr auf den Straßen und Ratten in den zu kleinen Wohnungen prägen ihr entbehrungsreiches Leben, überschattet (nein: gewürgt!) durch den Tod dreier Söhne und einer nicht abreißenden Spirale von Gewalt, immer neu aufgestacheltem Hass auf alles, was anders ist – oder scheint –, und Verzweiflung.
Dass sich dies bei aller niederschmetternden Wucht trotzdem leicht lesen lässt, liegt neben den kleinen Glanzmomenten wie einem Jungenstreich, um eine ungeliebte Tante loszuwerden, oder der Absurdität einer Federboa um dem Hals eines Milizionärs, am Erzähltalent von Joana Osman: Fließend verwebt sie Familienanekdoten und Weltgeschehen, das Gestern, das Dazwischen, das Heute; die Tonlage wechselt zwischen Nostalgie und Reportage, wirkt zu Beginn fast schnodderig und gewinnt zum Ende hin eine Leuchtkraft von ganz eigener … nun, sagen wir in Ermangelung besserer Worte: Schönheit. Zum Beispiel dann, wenn sie nahtlos von einem dreitägigen Massaker in einem Flüchtlingslager auf die dort viele Jahre später pulsierende, wilde, jahrmarktbunte Lust am und auf das Leben überblendet. Vor allem verzichtet die Autorin auf bedeutungsschwangeres Raunen, das nur an wenigen Stellen (und im Titel) gezielt eingesetzt wird.
WO DIE GEISTER TANZEN ist Ende August 2023 erschienen, fünf Wochen vor den Terroranschlägen der Hamas auf Israel, mit denen die ganze Abgründigkeit menschlichen Handelns sich ein weiteres Mal Bahn gebrochen hat; die aktuelle Eskalation eines Konflikts, bei dem es auf beiden Seiten nur Verlierer geben kann. Als Leser von geringem Verstand versuche ich, das Grauen, das mit jeder Nachrichtensendung, mit jedem Social-Media-Posting näher rückt, nicht zu nah an mich herankommen zu lassen … und so habe ich dieses Buch immer wieder wie einen Schutz vor mich gehalten.
Natürlich darf man einem Roman nicht die Verantwortung auflasten, etwas zu erklären, was viel zu komplex ist, um es auf 211 Seiten zu fassen – aber ich fühle mich Osman zu Dank verpflichtet, dass sie uns mit dem winzigen (aber vermutlich exemplarischen) Bruchteil einer Geschichte nun Orientierung an die Hand gibt, die dankenswerterweise keinen Zeigefinger erhebt: Israelis und Juden sind hier nicht „die Feinde“, Verständigung, sogar Freundschaft ist trotz der vererbten Traumata möglich, westliche Regierungen und internationale Hilfsorganisationen machen Fehler, werden dafür aber nicht an den Pranger gestellt (anders als die selbsternannt „religiösen“ Führer, die Hass schüren und predigen, um orientierungslose Menschen mit einfachen Parolen und klaren Feindbildern zu ihren Erfüllungsgehilfen zu machen; wer hier schaudernd an das laizistische Pendant denkt, also die rechtsextremen Parteien in Deutschland, ist vermutlich auf der richtigen Spur). Darf man – darf ich – so ein Buch also überhaupt kritisieren?
Mein Unbehagen, das immer wieder von der aufrichtigen Begeisterung für den Text fortgewischt wurde, regte sich schon in der Vorbemerkung: „Ich kann nicht behaupten, dass ich mich beim Schreiben dieses Romans bemüht habe, historische Genauigkeit walten zu lassen und bei den Fakten zu bleiben – im Gegenteil“, schreibt die Autorin … und hat mich damit vor den Kopf gestoßen, weil mir zunächst nicht klar war, ob sich dies auf ihre Familien- oder Weltgeschichte beziehen mag. Und obwohl sie am Ende des nächsten Absatzes auf die Lektüre von historischer Fachliteratur verweist, bleibt das nagende Gefühl, jede Jahreszahl, jede reale Begebenheit, vor der sich die Fiktion entfaltet, nachprüfen zu müssen. Nicht der beste Start in ein Buch, wie ich finde.
Was mir sehr gut gefällt ist, wie die Autorin sich und die Gegenwartsebene zurücknimmt – allzu oft kranken Geschichten auf zwei Zeitebenen daran, dass die Befindlichkeiten der (west)verwöhnten Jetztzeit erzählerisch nur auf die Knie gehen kann vor der Wucht der Vergangenheit. Aber gerade bei einer so unaufgeregten und versierten Erzählerin wie Osman hätte ich mir gewünscht, dass sie uns mehr am Ringen mit ihrer Identität teilhaben lässt (oder deren Ausgestaltung, es muss ja wirklich nicht allüberall gerungen werden). So verliert auch die Vaterfigur ihrer Ich-Erzählerin ab dem Moment, in dem er in Deutschland ankommt, die vorher durchaus dichte Struktur – während dessen Mutter trotz ihrer kleinen Fluchten ins Kino auf die Rolle der schmerzensreich Leidenden reduziert wird, die ebenso von Lethargie und zeternder Selbstbehauptung dominiert wird wie die anderen Frauenfiguren der Großelterngeneration. Für ein Sachbuch mag das richtig sein, für einen autofiktionalen Text vermutlich auch, aber für einen Roman, der doch gerade nicht den Anspruch erhebt, dicht an der Wahrheit zu bleiben, empfinde ich es als unbefriedigend.
WO DIE GEISTER TANZEN hätte das Zeug zu einem großen Roman gehabt (und nebenbei erwähnt einen einfallsreicheren Umschlag verdient) – und ist ein gutes Buch geworden, bei dem sich die Einschränkung „immerhin“ verbietet. Ich wünsche mir, dass viele von euch (viele von uns) die Geschichte der Menschen lesen, die noch Jahrzehnte nach der Vertreibung ihre alten Hausschlüssel hüten wie einen Schatz und eine Verheißung, und mich an ihren Gedanken teilhaben lassen.
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Ich habe dieses Buch von einer Freundin geschenkt bekommen, die beim Verlag arbeitet; es handelt sich bei dieser Rezension also nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung, sondern sie gibt lediglich meine Meinung wieder.
Joana Osman: WO DIE GEISTER TANZEN. Penguin Verlag, 2023
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