DIE PASSANTIN erzählt von einer Frau, die radikal neu beginnt – und wird erzählt von Nina George, die in vielfacher Hinsicht eine Bereicherung für die deutsche Buchszene ist.

„Bücher erzählten immer von der Realität. Und zwar von jener unsichtbaren, verschwiegenen, hinter jener, die wir sahen. Bücher erzählten von der Rückseite. Von Begehren. Von Macht. Von Hass. Sie deckten alles auf, über das Menschen so ungerne sprachen, und dass sie sich in Gier verlieren wollten, dass sie Macht liebten, dass sie jemanden oder etwas so sehr hassten, dass sie es treten und bluten lassen wollten, und davon, dass sie es genossen, zu demütigen, dass sexuelle Lust aus Erniedrigung trank. Bücher waren der Pfad, und sie rissen uns an ihren papiernen Händen mitten hinein in den Menschendschungel.“

Gerade noch hat Jeanne in den Armen des Mannes gelegen, der ihr Liebhaber war (und den sie nicht wiedersehen will) – nun steht sie am Flughafen von Barcelona, hat bereits eingecheckt, um in das Leben zurückzukehren, in dem nur ihre Töchter noch Anker sind, nicht ihr Ehemann (dessen widerwärtigstes Geheimnis sie kennt). In genau diesem Moment wird einem der größten Filmstars ihrer Generation bewusst: Sie will nicht fliegen; wenig später ist sie auf dem Rückweg in die Stadt. Und das Flugzeug, in dem sie sitzen sollte? Zerschellt, gelenkt von einem suizidalen Copiloten, in den Bergen.

In DIE PASSANTIN erzählt Nina George die Geschichte einer Frau, die von der Welt für tot gehalten wird, weil die Medien sie dazu erklären – und darum etwas tun kann, von dem viele träumen: Jeanne fängt ganz neu an, baut sich in Barcelona ein Leben im Verborgenen auf, unbemerkt von der Öffentlichkeit, geliebt von ihren neuen Vertrauten. Aber dann, viereinhalb Jahre später, erlebt sie einen weiteren besonderen Moment: Sie begegnet auf der Straße ihrem (Ex-)Mann und seiner neuen Frau. Beide scheinen sie nicht zu sehen. Und Jeanne? Sollte besser in die andere Richtung gehen. Aber sie folgt ihnen – und öffnet so den Rahmen, in dem Nina George auf 318 Seiten ihre fesselnde Geschichte erzählt.

Was ist DIE PASSAGIERIN für ein Roman?

„Bücher zu schreiben, ist nackt in die Schlacht zu gehen, in der dich alle schlagen können“, schreibt Nina George, die es nicht nur als Bestsellerautorin wissen muss, sondern auch als eine der wichtigsten Stimmen, die Deutschland im Kampf für die Urheberrechte von Schreibenden hat. Wie nähert man sich dem Roman einer Frau, für die man (auch) aufgrund dieser Ecksteine ihres Schaffens Bewunderung hegt … noch dazu, wenn diese beiden Platzhalter natürlich für ein „ich“ stehen?

DIE PASSANTIN beginnt so druckvoll und soghaft, dass ich mich der im Rückseitentext zitierten Simone Buchholz zur anschließen kann: „Nina George zeigt in diesem Roman mit großer Entschlossenheit, wo der Hammer hängt.“ Obwohl die Wendepunkte in Jeannes Leben höchst konstruiert sind, gestaltet die Autorin beides so plausibel, dass wir uns staunend mitreißen lassen. Nina George stellt ihr weitere Frauen an die Seite, andere Schicksale; für das Haus, in dem sie leben – und das einen Hauch magischen Realismus verströmt – habe ich keine Worte, sondern nur ein großes, schnell schlagendes Leserherz.

Zu den Frauen, denen wir begegnen, gehört auch Nina, eine „Straßenpolizistin, beschäftigt bei der Mossos d’Esquadra, aber sie kennt zwei Gesetzbücher: das der spanischen Krone und das Gesetz der Frauen – was nicht dasselbe ist.“ Ist die Namensgebung Zufall? Jürgen Deppe fragte für den NDR bei der Autorin nach – und bekam die Antwort: „Ich bin nicht die Anwältin der Frauen. Aber vielleicht bin ich die Anwältin von Wahrheiten, die schmerzhaft sind, die unangenehm sind, die bisweilen manche Frauen ganz tief in sich verstecken.“

Das, von dem Nina George erzählt, ist abgründig – aber so, wie sie darüber schreibt, stürzt es uns Lesende nicht in die Tiefe. Es gibt Literatur, die unpolitisch ist; DIE PASSANTIN gehört nicht dazu. Zum Glück! Denn der Roman ruft uns immer wieder zu: „Wisse, verstehe, ändere!“ Und sei es nur, dass wir niemals einem Mädchen davon abraten, auf Bäume zu klettern.

DIE PASSANTIN ist ein besonderes Buch – auch eins, in dem ich mich als Leser von geringem Verstand zuhause fühle?

Ich bin sicher, dass es viele Lesende gibt, die vollumfänglich begeistert sein werden von DIE PASSANTIN – und kann mich, trotz der immer wieder kräftig brandenden Begeisterung, nicht dazu zählen. Das liegt weniger am Buch als an meinem Lesegeschmack (und wer nun rufen mag: „Es geht nicht um Geschmack, sondern um deinen beschränkten Horizont, du Wicht“, der irrt womöglich nicht): Für mich hätte die Geschichte mehr Genre vertragen. Es gibt Szenen, die mich atemlos vor Begeisterung zurückgelassen haben – oft dann, wenn die Autorin mehr mit Sprache spielt als mit Bedeutung, wenn Jeanne „Ach, krück nicht rum“ sagt und kritisiert, dass eine Frau „mit Mitte vierzig noch rumbackfischt“. Und es gibt andere, bei denen ich denke, dass ich da zu viel Willen zum Berühren lese:

„Was denkst du: Können Menschen, die nicht lesen, lieben?“
„Ja“, höre ich mich, dabei habe ich nie darüber nachgedacht. „Doch.“
„Das gibt mir Hoffnung“, sagt Eda. „Als mir das Licht schwand, fürchtete ich auch um den Abschied der Liebe.“
„Ich komme später, ich lese dir was vor, Eda, behalt die Bücher, das ist wie Lesen mit geliehenen Augen.“

Wie kann ich meine widerstreitenden Gefühle für DIE PASSANTIN auf den Punkt bringen, die sofort wieder da sind, wenn ich Wochen nach der Lektüre diese Gedanken zusammentrage? Mein Bauch sagte zu verschiedenen Wendepunkten im Buch, dass es sich die Autorin manchmal zu leicht und oft zu schwer gemacht hat; mein Kopf indes weiß, dass hier eine Autorin meisterhaft Knöpfe drückt, um eine literarisch aufgeschlossene Leserschaft zu begeistern. Und das gilt sicher nicht nur bis, sondern insbesondere auch für das Ende.

DIE PASSANTIN ist ein Buch, das nicht unberührt lässt, in vielerlei Hinsicht …

Was mich unangenehm berührt: Dass Nina George die reale Tragödie des Germanwings-Flug 9525 am 24. März 2015 benutzt, um ihrem Roman einen Bezug zu geben, den er überhaupt nicht braucht; in meiner Wahrnehmung ist es etwas anderes, ob man den Tod von 150 Opfern in eine Geschichte einbindet oder den von unfassbaren 2.977, die bei den Anschlägen vom 11. September 2001 ihr Leben verloren. Ich verstehe, warum die Autorin das Reale mit dem Erfundenen verwebt – letztendlich zieht sich dies wie ein roter Faden durch den Roman, der immer wieder von dem erzählt, was genau so tagtäglich in der Welt passiert. Aber … ich bin da raus, so innerlich, auch wenn ich die Begeisterung der bereits zitierten Simone Buchholz nachvollziehen kann, für die DIE PASSANTIN „opulent, warm, voller Farben und scharf wie eine Rasierklinge“ ist.

Wäre dieses Buch eine Oper – und das dramatische Potential und den vollen Klang hat es von der ersten bis zur letzten Seite –, so würde ich bis zum dritten Vorhang klatschen, vielleicht sogar noch den vierten mitnehmen, dann aber nach Hause gehen.

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Ich habe dieses Buch nicht gekauft, sondern das Leseexemplar von einer befreundeten Buchhändlerin in die Hand gedrückt bekommen. Bei meiner Rezension handelt es sich trotzdem nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung: Sie gibt lediglich meine subjektive und unbeeinflusste Meinung wieder.

Nina George: DIE PASSANTIN. Kein & Aber, 2025.