Mit ihrem literarischen Debüt ONIGIRI folgt Yuko Kuhn den Spuren ihrer Mutter – und legt mit ihrer deutsch-japanische Familiengeschichte die Messlatte hoch für alles, was in der zweiten Lesejahreshälfte 2025 erscheint.

„Als wir ein Passbild machen lassen, ihr alter Reisepass ist abgelaufen, sieht meine Mutter sich das Foto verwundert an, Aki, wie sehe ich denn aus? Wie alt bin ich? Im Kreisverwaltungsreferat erklärt die Beamtin meiner Mutter geduldig wieder und wieder, wie das Einscannen der Fingerabdrücke funktioniert und wo sie unterschreiben muss. Keiko Mori muss ich hinschreiben, oder, Aki, fragt meine Mutter, und ich nicke ihr zu.“

Um gar nicht erst den Verdacht aufkommen zu lassen, kein Fan zu sein: ONIGIRI liest sich, als würde man seine Hand in einen Kaschmirhandschuh gleiten lassen. Die Münchner Autorin Yuko Kuhn nimmt uns in ihrem Debütroman mit auf die letzte Reise einer Tochter mit ihrer Mutter, die sich im Grau der Demenz verliert – und lädt uns ein, eine farbenreiche Familiengeschichte voller Brüche kennenzulernen, in der Liebe und Fremdheit, Festhalten und Loslassen, Aggression und Zartheit mehr sind als zwei Seiten einer Medaille, nämlich ein stimmiges Ganzes. Und noch dazu eins, das uns auf jeder der 204 Seiten verwöhnt und immer wieder überrascht.

Wie gut kennen wir den Menschen, ohne den es uns nicht geben würde?

„Bis vor wenigen Jahren hatte ich mir nie Gedanken darüber gemacht, warum meine Mutter nach Deutschland gekommen war“, legt Yuko Kuhn ihrer Hauptfigur Aki in den Mund, mit der sie sich Teile ihrer eigenen Familienkonstellation teilt: „Sie war einfach da. Und eine mutige Frau war sie für mich nie gewesen.“ Aki hat ihre japanische Mutter, die in Deutschland einen deutlich jüngeren Mann geheiratet hat, ohne Fuß fassen zu können in seiner Familie, oft als passiv erlebt, vom Alltag überfordert, als eine Frau, die sich die Hände vors Gesicht legt. Auch Akis Vater, der sich früh scheiden ließ, hat mit Dämonen zu kämpfen, von denen seine Eltern, die ein wie aus der Zeit gefallenes Leben von Vorkriegsindustriellen führen, nicht die schlimmsten sind … aber auch nicht die harmlosesten.

Als Aki erfährt, dass ihre japanische Großmutter im hohen Alter gestorben ist, bucht sie zwei Flugtickets: Noch einmal soll ihre Mutter das Land sehen, in dem sie aufwuchs und das ihr doch keine Heimat mehr zu sein scheint, ein letztes Mal ihren Bruder Masayuki treffen und ihre ehemals beste Freundin. Vielleicht wird die Reise ihr helfen? (Ich verrate nicht zuviel, wenn ich das verneine; tatsächlich wird Keiko in Japan zum ersten Mal vergessen haben, wer Aki ist.)

Wo verläuft in ONIGIRI die Trennlinie zwischen Fakten und Fiktion?

Spurensuche, Friedensschluss, Neubeginn: Yuko Kuhn spürt in ONIGIRI einer Frau nach, deren Lebensumstände an die ihrer realen Mutter erinnern. (In diesem Zusammenhang: Die Autorin teilt auf ihrer Website private Fotos ihrer Mutter aus deren Zeit in Japan.) Hat sie also ein autofiktionales Buch geschrieben? Wie immer gilt: Es geht uns nichts an, und Hanser Berlin, wo das Buch erschienen ist, setzt die eindeutige Genrezuschreibung „Roman“ auf den Schutzumschlag. Der, nebenbei bemerkt, ausgesprochen hübsch gestalteten ist.

Und so erfahren wir in ONIGIRI vieles über eine literarische Figur, die nicht rein fiktiv ist, und lernen durch Akis Augen eine Frau kennen, die uns imponiert, mit der wir aber auch Mitleid haben … und trotzdem mehr als einmal schütteln möchten. Wobei letzteres das Gefühl ist, das man zunehmend für Akis deutsche Großmutter reserviert.

Gesine und ihr gestrenger Gatte Ludwig haben mich einige Male an die Großeltern denken lassen, die wir in Joachim Meyerhoffs ACH, DIESE LÜCKE, DIESE ENTSETZLICHE LÜCKE kennen und lieben lernen, auch wenn deren dauerbeschwipste Exzentrik sich deutlich unterscheidet von der Kälte, die Akis deutsche Familie oft verströmt. Vielleicht ist das eine weitere Qualität von Yuko Kuhns unaufgeregter Erzählweise und ihrer fließenden, manchmal aber fast ein wenig nüchterner Sprache: Sie baut uns eine Brücke zu eigenen Erinnerungen, zu den Menschen, die in unserem Leben eine Rolle spielen und nicht in diesem Roman, den wir gerade deswegen aber auch mit gespannter Begeisterung verschlingen.

Yuko Kuhn gehört zu den Autorinnen, die uns mit ihrem Werk vollumfänglich befriedigt – und gleichzeitig neugierig macht auf mehr

ONIGIRI ist stark auf die Vergangenheit ausgerichtet; über die Gegenwart und die Familie, die Aki gegründet hat, erfahren wir wenig. Und obwohl das bei der Fülle der vielen Momentaufnahmen, die Yuko Kuhn zu einer intimen Collage zusammenfügt, nicht weiter ins Gewicht fällt, finde ich es doch schade, dass ihren älteren Bruder nur als Gast in Erscheinung tritt:

Sie benutzt Kenta vor allem, um die Gegensätze zwischen den Geschwistern herauszuarbeiten. Und natürlich fordert sie die motivierten Laienpsychologen in uns heraus, zu überlegen, wer von den beiden Geschwistern was von den Eltern und Großeltern geerbt hat. Ich würde sofort einen Roman über Kenta lesen wollen, über Gesine sowieso; wann hat mich ein Roman eigentlich zum letzten Mal so neugierig aufs Nebenpersonal gemacht, ohne dass dies etwas von der Begeisterung fürs Hauptprogramm abgezogen hätte?

Es gibt so viel, was ich über ONIGIRI erzählen wollen würde. Klappt aber nicht, weil: Immer, wenn ich eine der vielen Seiten aufschlage, die ich mir mit einem Eselsohr markiert habe, weil ich eine Textstelle beim Lesen relevant für diese Rezension empfunden habe, lasse ich mich sofort wieder mit großem Vergnügen in den Kaninchenbau fallen, der nicht ins Wunderland führt, aber zu neuen Erkenntnissen und Blickwinkeln.

Und weil ich diese Rezension natürlich ausklingen lassen möchte mit einem der vielen Zitate, die mich berührt und begeistert haben, bietet sich dieses an, das den Roman perfekt zusammenfasst:

„Bei uns zu Hause sitzt meine Mutter im Schaukelstuhl und liest in der immer gleichen Ausgabe der japanischen Zeitung, die wir von unserer Reise mitgebracht haben. Natsukashii, sagt sie. Das Wort ist schwer zu übersetzen, es ist ein Ausdruck für eine Wehmut, die gleichzeitig Glück und Trauer bedeutet.“

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Ich habe dieses Buch nicht gekauft, sondern das Leseexemplar vom Verlag geschickt bekommen. Bei meiner Rezension handelt es sich nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung: Sie gibt lediglich meine subjektive und unbeeinflusste Meinung wieder.

Yuko Kuhn: ONIGIRI. Hanser Berlin, 2025.