In ihrem neuen autofiktionalen Roman jongliert die französische Autorin Colombe Schneck mit schönen und trügerischen Erinnerungen – aber LÜGEN IM PARADIES ist mehr als ein faszinierender Zirkustrick, sondern die Einladung, uns mit der Kunst des Geschichtenerzählens auseinander zu setzen.
„Liebe Colombe, seit du angefangen hast, Bücher zu schreiben, deren aufmerksamer Leser ich bin, fürchte ich mich vor diesem Moment. In deinen ‚Romanen‘ ist die Grenze zwischen dem, was wahr, und dem, was erfunden ist, nicht sehr klar, und ich wusste, dass du dich irgendwann auf das Home stürzen würdest, dass du es zu einer Kulisse, einem Rohstoff für eine deiner Unternehmungen machen würdest. – Als du im letzten Jahr angefangen hast, mir ganz diskret in den sozialen Medien zu folgen, war mir klar, dass wir dran sind. Was wir erlebt haben, ist eine zu gute Geschichte, als das du nicht Lust bekommen würdest, sie zu erzählen.“
Zuerst einmal werfe ich fünf Euro ins Phrasenschwein, weil ich damit beginne, dass Autofiktion in den letzten Jahren beliebter und erfolgreicher geworden ist; könnte die Mischung aus Zeugnisablegen, Selbstermächtigung (die man auch als Selbstüberhöhung verstehen kann) und Fiktion inzwischen das sein, was Tropes für das Romance-Genre sind? Darum soll es hier nicht gehen; was sich in meiner Auseinandersetzung nachfolgend aber nicht vermeiden lässt, sind Spoiler.
Die französische Autorin Colombe Schneck hat bereits zwei Bücher in Deutschland veröffentlicht: In DIE ERSCHÜTTERUNG folgt sie den Spuren ihrer Cousine, deren Namen sie ihrer Tochter gegeben hat – nicht ahnend, dass Salomé als Kind in Auschwitz ermordet wurde. Im nachfolgenden PARIS-TRILOGIE sind drei Texte gesammelt, in denen sie sich mit einer traumatischen Jugenderfahrung auseinandersetzt, dem Verlust einer Freundin und einer besonderen Liebe.
Mit klarer Sprache, einer gewissen Schonungslosigkeit, vor allem einer Eleganz, der man das „gewisse Etwas“ der französischen Literatur zuschreiben darf, macht Colombe Schneck für uns Lesende aus dem Schlüsselloch in ihr Leben großes Erzählkino. Aber inwieweit trennt sie zwischen Autorin und Romanfigur? Wie stark ist der fiktive Anteil ihres autobiographischen Erzählens – und wie zuverlässig sind unsere eigenen Erinnerungen, die wir unbewusst oder wohlkuratiert herumtragen?
Kann man von einem Colombe-Schneck-Roman einen fluffy beach read erwarten? Eher nicht. Und das ist auch gut so!
Nach ihren emotional herausfordernden Büchern überlegt Colombe Schneck, einen leichteren Stoff zu schreiben, einen „Alpen-Roman“ über die Ferien ihrer frühen Jahre, die sie mit anderen Kindern in der Schweiz verbrachte:
„Die Eltern zahlen, wir werden geliebt. Wir sind zu Hause. Das ‚Home‘ ist unser Haus und nicht unser Haus. Es ist das Home, auf Englisch. Ein Haus für die, die von anderswo sind, aus wohlhabenden, aber instabilen Familien wie meiner oder aus Kriegsländern. Karl und Anne-Marie Ammann widmen dieser Aufgabe ihr Leben.“
Das idyllisch gelegene Chalet ist ein Ort, an den Colombe und ihre damaligen Freund*innen gerne zurückdenken – an Gemeinschaft und Natur, die traditionellen Theateraufführungen, an die verlässliche Strenge von Karl, der für seine Autorität geliebt wird, und die Herzlichkeit der Gast-Mutter:
„Im Internet posten Home-Kinder Fotos von Gerichten, die sie zum Gedenken an Anne-Marie gekocht haben, begleitet von Herzen und Ausrufezeichen […]. Unsere Erinnerungen sind wie goldene Blasen, die wir um jeden Preis unversehrt erhalten müssen. Wir haben es genau so erlebt, also ist es wahr.“
Sehen wir immer nur, was wir wollen?
Aber natürlich ist das nicht die ganze Wahrheit, denn da gibt es auch die Kinder der Gasteltern – und für die war das Haus kein Paradies: Vava wurde von ihrer Dorfschullehrerin gequält und von der Mutter verachtet, wenn sie in Phasen der Essstörung stürzt; später wird sie als Illusionsmalerin für ihre Trompe-l’œil-Kunst gefeiert:
„Sie war eine Expertin des Falschen, schenkte der Realität etwas Glanz, wo es ihr daran fehlte. […] Wie ich, wenn ich versuche, ihre Geschichte und meine zu schreiben, indem ich manche Tatsachen verändere, andere unterschlage, vergesse, war mir ungelegen kommt oder was nicht zu dem passt, was ich erzählen möchte.“
Und Patou, der Sohn? Der bekommt die Schläge, die sein Vater anderen androht, nicht nur physisch – denn Karl sucht sich im Logierkind Élie einen „leistungsstärkeren“ Ersatzsohn. Und nun, als Erwachsener? Hat Patou es zu Berühmtheit gebracht als Betrüger und vielleicht sogar mehr; als Colombe sich mit ihm zu einer Wanderung verabredet, wird sie gewarnt:
„Ein ‚Unfall‘ ist schnell passiert. Élie spricht von ‚Mafia‘ und ‚Erpressung‘, was mich gleichzeitig erschreckt und reizt.“
LÜGEN IM PARADIES, fließend von Claudia Steinitz übersetzt, erzählt auf 155 Seiten von Verletzungen und ihren Folgen – und vom Spiel mit der Realität, dem wir uns alle manchmal hingeben: Oder sind Erinnerungen immer trügerisch und darum eine eigene Form der Unwahrheit? Wie verhält es sich, wenn man die eigene Geschichte erzählt, sowohl in kleinem Rahmen als auch vor einem literarturinteressierten Publikum – ist man dem verpflichtet, was sich konkret zugetragen hat?
Zu den sehr vielen Denkanstößen, die uns das Buch in diesem Zusammenhang gibt, gehört auch dieser: Colombe listet die nachvollziehbaren Gründe auf, die aus Patou einen Lügner und Betrüger gemacht haben; an letzte Stelle setzt sie:
„Weil er sich für das schämt, was er erlebt und erleidet. […] Er ist eine gespaltene Persönlichkeit, er will gefallen und ist überzeugt, dass er seinen Platz nur finden kann, wenn er seine Taten ausschmückt. Aber dieser Platz ist ein Trugschluss, ein Kartenhaus.“
Und das schließt sie wie folgt ab:
„In einem Märchen zu leben, in einem Haus, das auf Fabel gebaut ist – kenne ich das nicht auch?“
Colombe Schneck zeigt uns, wie sehr sie als Autorin mit Wahrheit und dem spielt, was das Gegenteil sein mag – und das vielleicht öfter, als wir denken?
Obwohl Colombe Schneck aufgrund des Themas weniger um sich selbst kreist als in PARIS-TRILOGIE, gibt es Exkurse in ihr Leben – zum ambivalenten Verhältnis zu ihrer Mutter, sicher eins ihrer großen Lebensthemen, und zu ihrer Beziehung zum oppressiven Charles. Schonungslos gegen sich selbst zeigt sie uns einen Moment der Überforderung; wir Lesende dürfen uns aber, angesichts dessen, was die Autorin zuvor so selbstkritisch über ihre Rolle als Erzählerin festhält, durchaus die Frage stellen, ob sie diese Offenheit zeigt, weil man deswegen gewillt ist, ihr nachzusehen, wie sie ihre kleine Tochter beschimpft. Zumal wir dies wiederum nur wissen, weil Colombe Schneck es uns verraten will …
Besonders doppelbödig wird das Jonglieren mit erinnerten Fakten und Fiktion, wenn Colombe eine alte Freundin trifft, die ihr eine Gewalterfahrung anvertraut:
„Ich lege Charlotte die Hand auf die Schulter, ich habe mich ins Jahr 1988 zurückkatapultiert und die Szene ablaufen lassen, um das Ende zu ändern. Ich wäre rechtzeitig gekommen […]. Aber so war es nicht, und Charlotte hat ihren Ekel in sich begraben.“
Wir alle kennen diesen Wunsch, gegen die Gesetze von Raum und Zeit eine andere Realität zu ermöglichen, und sind emotional berührt. Aber will die Autorin uns hier nur einmal mehr vorführen, auf welches dünne Eis sie uns mit ihrem Buch führt?
Es ist ein Vergnügen, Colombe Schneck zu folgen – und ab einem gewissen Zeitpunkt alles, was sie für uns aufgeschrieben hat, zu hinterfragen. Niemand, der bewusst Autofiktion liest, wird sich gänzlich vom Voyeurismus freisprechen können – die Lupe, die LaSchneck uns reicht, um genauer hinsehen zu können, ist oft ein Spiegel mit Sprüngen. Und ganz nebenbei schneidet sie in wenigen Sätzen auch noch ein komplexes Thema an: Auch vor Gericht kann gelogen werden, ohne dass man es so nennen würde – erfahrene Anwälte, die sich nur Gutbetuchte leisten können, haben die Fähigkeit, die Realität so auszulegen, dass ein Beweis beides sein kann, die Wahrheit und die Unwahrheit.
Colombe Schneck legt mit LÜGEN IM PARADIES ein kurzes, starkes Buch vor, das auf verschiedene Art begeistert – und neugierig macht auf mehr!
Das Zitat, mit dem ich diese Rezension eingeleitet habe, stammt aus einem Brief von Patou an die Autorin; seine Schwester hat dagegen kein Interesse, ihrer alten Freundin Rede und Antwort zu stehen, und begründet das mit einer so guten Zustandsbeschreibung für viele Auseinandersetzungen der heutigen Zeit, dass man niederknien möchte vor so einer Verdichtung:
„Einem Dialog unter Gehörlosen ziehe ich die Stille meiner Einsamkeit vor. Diese Wahrheit genügt mir.“
LÜGEN IM PARADIES ist ein Buch, das man atemlos lesen kann – und das dazu einlädt, die markierten Seiten noch mehr als einmal zu genießen. Und natürlich weckt es auch den Wunsch, ein weiteres Mal PARIS-TRILOGIE zu lesen, weil ich sicher bin, dass es sich mir nach der Lektüre der beiden anderen Werke auf neue Art erschließen wird. Vielleicht sogar mehr? Denn auch wenn Colombe Schneck damit spielt, dass wir ihr – und uns – nicht immer Glauben schenken sollten, so steht ihr Schreiben doch sicher unter dem Motto, das sie wie folgt zusammenfasst:
„Wie viele Jahre noch und wie viele Bücher, um die Wahrheit zu erreichen?“
***
Ich habe dieses Buch nicht gekauft, sondern als Rezensionsexemplar vom Verlag erhalten. Bei meiner Rezension handelt es sich trotzdem nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung: Sie gibt lediglich meine subjektive und unbeeinflusste Meinung wieder.
Colombe Schneck: LÜGEN IM PARADIES. Aus dem Französischen von Claudia Steinitz. Rowohlt, 2025.


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