Mit seinem Coming-of-Age-Roman DURCH DAS RAUE ZU DEN STERNEN hat Christopher Kloeble eine hinreißende Außenseiter-Ballade geschrieben, die uns mitfiebern lässt.
„Mein Vater ist zurzeit jedenfalls nicht richtig mein Vater. Selbst wenn wir wüssten, wo meine Mutter ist, könnte er sie nicht zurückholen. Sie würde ihn wahrscheinlich nur fragen ‚Wer bist du denn?‘ Und er würde antworten: ‚Ich weiß es nicht, wenn du nicht da bist.“ Und wann würde sie sagen: ‚Ich kann erst wieder da sein, wenn du wieder du bist.‘ Und dann würde er wahrscheinlich weinen.“
So schlimm ist das nicht, oder? Arkadias Mutter ist nur kurz weggegangen. Das kommt vor! Nur ist das schon vor geraumer Zeit passiert, und die Hoffnung der 13-jährigen, dass „kurz“ wirklich das Gegenteil von „lang“ ist und auf gar keinen Fall „für immer“ bedeutet, ist in Gefahr. Deswegen muss ein Plan her: Wie kann Arkadia ihre Mutter zurück locken in ihr bayerisches Dorf?
Umschlag und Titel von DURCH DAS RAUE ZU DEN STERNEN raunen bedeutungsschwanger, aber Christopher Kloeble hat vor allem einen hinreißenden Coming-of-Age-Roman geschrieben, der zielsicher ins Herz trifft: eins jener wertvollen Bücher, die uns zum Schmunzeln bringen, wenn uns eigentlich zum Weinen zumute sein sollte, und manchmal umgekehrt. (Ab hier lassen sich kleinere Spoiler nicht vermeiden.)
Eine Hauptfigur zum Verlieben!
Das liegt vor allem an seiner Heldin: Zugegeben, Arkadia Fink, genannt Moll, ist viel zu schlau, um wahr zu sein, aber auch verletzlich, liebenswert und so gebeutelt, dass wir gar nicht anders können, als uns mit ihr zu solidarisieren. Darum hoffen wir inständig, dass sie ihren Plan in die Tat umsetzen kann: Moll ist sicher, dass ihre Mutter zurückkehren wird, um ihre Tochter auf einer großen Bühne singen zu hören.
Wo fangen die Probleme an? Natürlich damit, dass Moll in einen Knabenchor aufgenommen werden will, was nicht nur an der starren Haltung der Chorleiter zu scheitern droht: Besitzt Moll möglicherweise gar nicht das perfekte Gehör?
Christopher Kloeble spielt in DURCH DAS RAUE ZU DEN STERNEN geschickt damit, dass Moll eine unzuverlässige Erzählerin ist; gleichzeitig möchten wir sie an unsere Herzen drücken, weil wir wissen, wie sehr sich dieses Kind davor fürchtet, die Welt durch etwas anderes wahrzunehmen als durch eine Brille, die nicht rosa eingefärbt ist, aber ihrem Leben einen trotzig-schönen Glanz verleiht.
Wer empfindlich auf Gewalt gegen Kinder reagiert, sollte sich ein anderes Buch suchen, wird dadurch aber ein besonderes Lesevergnügen verpassen.
Das gilt auch für ihren Vater, der sie schlägt – aber fast freut Moll sich, wenn ihm „die Hand ausrutscht“, weiß sie doch, dass er sie danach besonders liebevoll behandelt. Das kann (vielleicht: das muss) uns befremdlich erscheinen; gleichzeitig bewegt uns diese Co-Abhängigkeit zwischen einem überforderten Mann und einem Kind, das kurz vor der Vernachlässigung steht, im Rahmen eines Romans, weil Christopher Kloeble dies unaufgeregt in nachhallenden Momenten einfängt: „Ich würde gerne wieder an meinen Vater glauben“, denkt Moll, so wie die anderen Kinder, bei denen er am 6.12. Geschenke ausliefert, sich durch ihn noch den unschuldigen Glauben an den Nikolaus bewahren dürfen.
DURCH DAS RAUE DURCH DIE STERNE ist jene Art von Außenseiter-Ballade, in die sich alle fallen lassen können, die das Gefühl kennen, schon einmal ausgeschlossen oder vorgeführt worden zu sein, weil Moll uns das Herz bricht und wir ihr gleichzeitig zujubeln wollen. Das zeigt sich, um ein Beispiel zu nennen, in der Szene, in der Moll über ihre MitschülerInnen nachdenkt, die wenig Verständnis dafür haben, dass sie sich die Haare abgeschnitten hat, um optisch in den Knabenchor zu passen:
„Sie bewundern mich natürlich. Nur können sie das nicht sagen. Sonst müssten sie ja auch etwas Ungewöhnliches tun.“
In DUCH DAS RAUE ZU DEN STERNEN zeigt Christopher Kloeble, wie sich im Traurigen manchmal auch etwas anderes verbirgt.
Eine mit beiden Füßen fest auf dem Boden der Realität stehende Geschichte darf man in DURCH DAS RAUE ZU DEN STERNEN nicht erwarten, aber eine, die uns befriedigt, weil der Autor genau weiß, wie er bei uns Lesenden Knöpfe drückt:
„Clemens aus der 2b verzog das Gesicht und sagte, niemand wollte eine wie mich küssen. Das sagen immer alle Jungs, die mich küssen wollen. Er schlug vor, dass ich meine Unterhose vor ihm ausziehe. Ich fragte ihn, warum. Er zuckte mit den Achseln. Ich sagte ihm, dass er mir schon sagen muss, warum er meine Vulva sehen möchte. Er fragte, was eine Vulva ist.“
Wir sind richtig stolz auf Moll, wenn sie Clemens, die kleine Ratte, danach in den Schwitzkasten nimmt – und so ihre Einladung für das Vorsingen des Knabenchors erpresst. Überhaupt erzählt Kloeble viel über männliches Verhalten, den Mikrokosmos Knabenchor und die Fallstricke dessen, was es bedeuten kann, ein Mann zu sein:
„Die Jungen lachten wie alle Jungen, denen ich je begegnet bin, lachen: Sie hielten sich dabei an den Blicken der anderen fest. Meine Mutter sagt, Jungen tun das, weil sie sich oft allein fühlen. Mädchen fühlen sich natürlich auch manchmal allein. Nur kommen sie damit besser klar.“
DURCH DAS RAUE DURCH DIE STERNE hat ein überschaubares, aber gelungenes Ensemble. Da ist zum Beispiel Bernhardina, Molls „beste Freundin“ und zum Schmollen neigende Stütze, früher Musiklehrerin in Namibia, die nun in einem Seniorendomizil mit dem Namen Phoenix lebt; ein Detail von vielen, die den Humor des Autors durchblitzen lassen.
Bernhardinas Geisteshaltung kann man erahnen, wenn man weiß, dass sie von ihrer ehemaligen Wirkungsstätte als „gutes, altes Südwestafrika“ spricht und kein Problem damit hat, Molls Mutter mit abgezweigten Medikamenten eine fragwürdige Selbstmedikation zu ermöglichen. Man kann darüber hinweglesen – aber sich auch daran erfreuen, wie der Autor es versteht, ambivalente Figuren zu zeichnen. Das gilt auch für Elonora Hans-Gilbert, die Tochter eines berühmten Chorleiters, die im Schatten ihres Vaters steht.
Christopher Kloeble zeigt viel Liebe zum Detail.
Molls größter Schatz sind die Notenhefte ihrer Mutter, in denen diese zum Beispiel ihr Lied „Unsere geschätzte Liebe“ festgehalten hat: „Es war kein kurzes Lied“, verrät uns Moll. „Es war auch kein hässliches Lied. Es war nicht einmal ein schwieriges Lied. Aber es war auch kein langes, schönes, einfaches Lied.“ Literaturkritiker mögen eine andere Meinung dazu haben – aber als Leser von geringem Verstand habe ich große Herzen in den Augen, wenn ich so etwas lese.
Es ist einige Wochen her, seit ich diesen Roman mit seinen 239 Seiten an einem Tag verschlungen habe, aber die Erinnerung ist noch lange nicht verblasst: Das warme Gefühl, dass ich mit DURCH DAS RAUE ZU DEN STERNEN verbinde, gesellt sich zu denen, die ich auch für die Filme WER FRÜHER STIRBT, IST LÄNGER TOD und LITTLE MISS SUNSHINE hege oder für CHOPIN IN KENTUCKY, den anderen Coming-of-Age-Roman, der mich in diesem Jahr begeistert hat.
Wer noch unentschieden ist, ob es sich lohnt, zu diesem Roman zu greifen, für den habe ich noch zwei Zitate im Angebot: „Zu nah ist mir der Wolken Sitz, ich warte auf den ersten Blitz“ – dieses Zitat von Nitzsche, mit dem Molls Mutter ihre Angst vor dem Leben umschreibt, kann in uns nachhallen, wenn wir uns darauf einlassen; der Autor nutzt es aber auch, um zu zeigen, dass seine kleine, große Heldin selbst die Naturgewalt sein will, lieber handelt statt abwartet. Vielleicht ist das genau die Motivation, die wir alle heute brauchen? – Und dann noch dies:
„Zu beiden Seiten der Straße verabschiedeten sich Mohnblumen von ihren Blütenblättern. Sie sind wie Musik. Wenn man sie mit nach Hause nimmt, verlieren sie sofort ihre Schönheit. Man kann etwas nicht so schön singen, wie man es gehört hat. Jede Melodie verwelkt schnell“, erkennt Moll. Und dann: „Ich fragte mich, ob das allen so geht. Das brachte mich nicht zum Weinen, nein, meine Tränen kamen nur wegen dem Fahrtwind.“
Vielleicht sollten wir alle etwas mehr Moll wagen: Sehen, was ist. Und für uns umdeuten, wo’s hilft.
***
Ich habe dieses Buch nicht gekauft, sondern als Rezensionsexemplar vom Verlag erhalten. Bei meiner Rezension handelt es sich trotzdem nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung: Sie gibt lediglich meine subjektive und unbeeinflusste Meinung wieder.
Christopher Kloeble: DURCH DAS RAUE ZU DEN STERNEN. Klett-Cotta, 2025.
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