Gute Geschichte, tolle Montage – aber dann geht’s mit der Autorin durch …
„Er trinkt, bis der Martini zu wirken beginnt, ihn aufwärmt, den Morgen auslöscht, seinen Körper von Schmutzpartikeln reinigt. In der Grundschule hat Moses am liebsten radiert – Radieren war für ihn was, was Zeitreisen am nächsten kam. In der Pause saß er mit seinem Heft auf dem Kunstrasen, schrieb schreckliche Dinge über Leute, die er kannte, hinein – sich selbst eingeschlossen –, und dann radierte er alles wieder weg, bis das Papier dünn und heiß war. Die Radiergummikrümel blieben am Polohemd seiner Schuluniform kleben, hinterließen Spuren. Doch Spuren haben Moses nie etwas ausgemacht.“
Die Kurzzusammenfassung dieses Romans, der 2022 mit dem National Book Award ausgezeichnet wurde, ist Gold: eine junge Frau, die weder sich selbst noch die Welt retten kann, aber eine Obsession für die Geschichte mittelalterlicher Heiliger entwickelt, ihre Nachbarin, die für eine Nachruf-Website arbeitet, die von einem ehemaligen TV-Superstar mit einer Hingabe zu Faultieren als letzte Bühne benutzt wird, und diverse Männer, die sich nur dann spüren, wenn sie Grenzen überschreiten – vielversprechender geht es nicht, oder?
Tatsächlich hat mich DER KANINCHENSTALL von Tess Gunty (in der Übersetzung von Sophie Zeitz) bis zur 332sten der 414 Seiten bestens unterhalten und zwischendurch wirklich begeistert: Die Konstruktion dieser verschachtelten Episoden, die sich mal mehr, mal weniger berühren, ist hervorragend, und Gunty versteht es, virtuos brillante Momentaufnahmen einzufangen. Ohne aufdringliche Effekthascherei erzählt sie unter anderem eindringlich von einer sterbenden Stadt, deren Revitalisierung ihre Seele töten wird, von den Wunden, die Erwachsene ihren (und anderen) Kindern zufügen können … und lässt dabei unbarmherzig einen Countdown durchklickern, erfahren wir doch bereits im ersten Satz, dass die 18jährige Blandine in einer heißen Nacht ihren Körper verlassen wird.
„Jede ihrer inneren Stimmen will ihm ein Ständchen bringen“ – diesen Satz auf Seite 332 finde ich ebenso Poesiealbum-tauglich wie erinnerungswürdig, aber kaum hatte ich ihn hocherfreut in einer Story bei Instagram verewigt, kippte das vorher so gut ausbalancierte und dabei lebensechte Buch: Es folgt ein akademischer Grundkurs im woken Gegenwartsdiskurs, den man überblättern könnte, würde er nicht nahtlos in das bereits angeteaserte Verbrechen münden, dessen Ursprung ein archaisches Männlichkeitsritual ist, das intellektuell begründet sein mag, auf mich Leser von geringem Verstand aber eher gewollt als gekonnt wirkt. Worin das gipfelt? Nicht in einem Todesfall, sondern der Zusammenführung diverser Handlungsebenen und einem Erweckungsmoment, der im Arthouse Cinema vermutlich Applaus bekommen würde, mich aber zunächst maximal enttäuscht zurückgelassen hat.
Allgemein bekannt ist, dass man ein Buch nicht nach seinem Umschlag beurteilen soll – wobei ich den von DER KANINCHENSTALL hervorragend finde (Applaus für die Grafikerin Miram Bröckel, die angibt, dass das Bild mit Hilfe der KI Midjourney entstanden ist, was dem Charme, den ich zwischen den Zeilen gefunden habe, in diesem Fall clever noch eine kalte Modernität entgegensetzt). Hinzu kommt im Fall von Tess Guntys Roman nun die Erkenntnis, dass man ein Buch auch nicht nach seinem Ende beurteilen muss – und so hat sich meine anfängliche Enttäuschung inzwischen doch zugunsten der Anerkennung vor der schriftstellerischen Leistung verflüchtigt.
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Ich habe dieses Buch von einer Freundin geschenkt bekommen, die beim Verlag arbeitet; es handelt sich bei dieser Rezension trotzdem nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung, sondern sie gibt lediglich meine Meinung wieder.
Tess Gunty: DER KANINCHENSTALL. Aus dem Englischen von Sophie Zeitz. Kiepenheuer & Witsch Verlag, 2023
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