Viel Bedeutung, viel Nachhall – und doch an keiner Stelle übertrieben
„Ich hievte mich auf dem Wasser und setzte mich, mit einem Handtuch um die Schultern gewickelt, an den Rand. Ich fragte mich, wie es wohl klingt, wenn ein Herz bricht. Ich glaube, es wäre leise, kaum wahrnehmbar, und gänzlich unspektakulär – wie eine erschöpfte Schwalbe, die sanft zu Boden fällt.“
Fast hätte ich diesen Roman – für den jedes preisende Adjektiv gerechtfertigt ist – verpasst: Wenn ich höre, dass zwei Jungs eine „intensive Beziehung“ haben, noch dazu einen langen heißen Sommer lang in Frankreich, bis ein Mädchen dazwischenkommt, vermute ich sofort, dass die heilende Lanze der Heterosexualität den „Es war nur eine Phase, Hase“-Makel hinfort brennen wird und damit emotionale Pein vorprogrammiert ist (aber wohl eher nicht auf der Mehrheitsseite). Und ja, ich weiß schon, dass elegisch-elegantes Leid Katzenminze für viele Lesende ist … und nein, dafür ist meine Märtyrergrundhaltung nicht ausgeprägt genug.
Hätte ich Leser von geringem Verstand also dem allzu sehr auf Stringenz abhebenden Rückseiten- und Klappentext geglaubt, der eine mit allerlei Klischees jonglierende Handlung andeutet, wäre mir ein Jahreshighlight entgangen – denn LICHTE TAGE ist eins dieser wunderbaren Bücher, die wärmen wie eine Umarmung, die uns manchmal sehr entschlossen schuppsen, und aber gleichzeitig auffangen.
Auf den gerade einmal 233 augenfreundlich gesetzten und von Elina Baumbach fließend ins Deutsche übertragenen Seiten erzählt Sarah Winman von Michael und Ellis und Annie, die sich die unterschiedlich gewichteten Hauptrollen teilen, ohne in Konkurrenz zu treten, aber auch von Mabel – Michaels Oma – und Dora – Ellis‘ Mutter – von G und von Chris und Billy und Garvy, die als Nebenfiguren immer mehr sind als Stichwortgebende (und mich wünschen lassen, ich könnte eigene Romane über sie lesen). Die Handlung wird dankenswerterweise nicht chronologisch heruntergespielt, sondern ist eine eindringliche Playlist, die uns (wenn auch nur vermeintlich auf Random gestellt) durch die verschiedensten Momente des Lebens führt – und nicht nur eine einfache Dreiecksgeschichte aufarbeitet, sondern einen ganzen emotionalen Kosmos entfaltet: LICHTE TAGE erzählt mit einer Traurigkeit, die warm leuchtet, und einer wie auf Polaroids verblassten Heiterkeit von der Liebe, zu deren Schattierungen neben erfüllten Momenten voller Glück auch Zweifel, Trauer, Angst, der flehende Wunsch nach Gesehenwerden und Hoffnung gehören.
Ich empfinde es als große Kunst, ohne viele Worte so viel Bedeutung und so viel Nachhall einzufangen, und mein Herz wird groß und weit, wenn die Autorin ohne Paukenschläge emotionale Knöpfe drückt und zum Beispiel ein Foto, das sich lange hinter einem Saum verborgen hat, dem ganzen Wertekosmos einer zum Glück nicht mehr aktuellen Moral trotzt. LICHTE TAGE ist ein Buch, das Schnelllesende vermutlich an einem langen Nachmittag beenden; ich habe mir den Roman wie eine ganz besondere Süßigkeit nur in kleinen, kostbaren Portionen gegönnt, um mehr davon zu haben. (Wollte ich Kritik üben, dann ausschließlich diese: Ausgerechnet auf der ersten Seite gibt es einen kleinen Stolperstein, da die Erzählperspektive nach den ersten drei Zeilen übergangslos von Carol zu Dora wechselt. Müsst ihr wissen. Könnt ihr jetzt sofort wieder vergessen. Servicedurchsage Ende.)
484 Wörter habe ich nun gebraucht, um Sarah Winmans Geschenk zu preisen, dabei würden auch drei reichen: KAUFEN! LESEN! LIEBEN!
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Ich habe dieses Buch selbst gekauft; es handelt sich bei dieser Rezension also nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung, sondern sie gibt lediglich meine Meinung wieder.
Sarah Winman: LICHTE TAGE. Aus dem Englischen von Elina Baumbach. Klett-Cotta Verlag, 2023.
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