In ANNA – ODER: WAS VON EINEM LEBEN BLEIBT erzählt der preisgekrönte Journalist Hennig Sußebach so spannend, kenntnisreich und zärtlich über seine Urgroßmutter, dass es eine Freude ist.

„Jeder Mensch stirbt zweimal. – Sein erster Tod ist biologisch und der, den wir meinen, wenn wir vom Sterben sprechen. An einem bestimmten Tag, zu einer festen Stunde, fehlt dem Herz die Kraft für einen nächsten Schlag, versiegen die Hirnströme, stellt ein Arzt einen Totenschein aus und bestätigt damit amtlich ein Ende, das insofern keins ist, weil in genau diesem Moment das zweite Sterben beginnt: Der Mensch wird vergessen.“

Die meisten von uns haben vermutlich das Glück gehabt, Zeit mit den Großeltern verbringen zu dürfen, aber die Urgroßeltern konnten wahrscheinlich wenige kennenlernen. Wie schnell geraten die Geschichten und Namen der Menschen in Vergessenheit, die vor unserer Geburt gestorben sind – und was bleibt von denjenigen, die keinen Nobelpreis gewonnen, keine Kunstwerke geschaffen oder aus einem anderen Grund einen Platz im kollektiven Gedächtnis gefunden haben?

Von Anna Raesfeld (1866–1932), verwitwete Vogelheim, geborene Kalthoff, gibt es heute noch Fotos, Postkarten, die sie geschrieben und Feldpostbriefe, die sie bekommen hat, dazu ein paar weitere Erbstücke. Aber wer war diese Frau, die als Lehrerin gearbeitet hat, lange darauf warten musste, ihre große Liebe heiraten zu dürfen, und später ein zweites Glück fand, das einen skandalösen Beigeschmack hatte? Ihr Urenkel, der unter anderem mit dem Henri-Nannen- und dem Egon-Erwin-Kisch-Preis ausgezeichnete Journalist Henning Sußebach, will Anna vor dem endgültigen Vergessen bewahren – und hat begonnen, zu recherchieren.

Henning Sußebach nimmt uns in ANNA mit auf die Reise an Orte, in eine andere Zeit und tief hinein in ein Leben, das so alltäglich wie besonders ist

So haben wir nun das Privileg und Vergnügen, Annas Spuren zu folgen – von Soest in Nordrhein-Westfalen nach Steyl, einem Klosterdorf in den Niederlanden, und schließlich in das kleine Cobbenrode im Sauerland. Wie Zaungäste, denen trotzdem ein Logenplatz zugewiesen wurde, sind wir dabei, wenn sie ihr Amt aufnimmt und sich in einen der vermutlich begehrtesten Männer des Dorfs verliebt; wenn sie „Ja“ zu ihm und darum „Ade“ zu ihrem Beruf sagt, um ihren Platz in einer Familie einzunehmen, in der sie wahrscheinlich nicht nur hinter ihrem Rücken als „Donnerwetter“ bezeichnet wird; wenn sie Kinder bekommt, auf Reisen geht, für viel Leistung schließlich ein Kaffeeservice bekommt, das heute der Mutter des Autors gehört.

Schnell fühlen wir uns Anna verbunden – aber kommen wir ihr nah? Henning Sußebach begeistert mich dadurch, dass er unsere Sympathien für seine Urgroßmutter weckt, ohne eine Frau zu verklären, über die auch er nur Vermutungen anstellen kann. War es verführerisch, ihre Geschichte auszuerzählen? Wahrscheinlich. Aber der Autor lässt Anna Leerstellen und Geheimnisse; und obwohl (oder gerade weil) ANNA sich oft wie Literatur liest, unterstreicht er mit stetem „So könnte es gewesen sein“ und „Wir wissen es nicht“ und „Ich stelle mir vor“, dass er keinen Roman geschrieben hat, sondern ein Sachbuch.

Es ist noch dazu eins, das neben Annas Geschichte auch von der Zeit erzählt, in der sie lebte. Ich könnte nun Seite um Seite füllen, um zu analysieren, wie Sußebach hier Fakten und Vermutungen zusammenführt, das Donnern der Weltgeschichte in Einklang bringt mit dem Alltag, in dem Anna und ihre Zeitgenossen natürlich noch nicht das große Ganze sehen konnten. Raunt das Buch? Aber sowas von! Und zwar auf eine so anheimelnde Art, dass ich oft versucht war, begeistert in die Hände zu klatschen – was aber nicht ging, weil ich sie brauchte, um schnell weiterblättern zu können. Henning Sußebach hat ein Buch geschrieben, dass man sicher auch deswegen als modern empfinden kann, weil es eine zeitlose und nostalgische Tonart anschlägt, die trotzdem nie Gefahr läuft, alt zu klingen.

Für welche Leserinnen und Leser wird das Buch von Henning Sußebach über seine Urgroßmutter ein großes Vergnügen sein?

Natürlich liegt es nah, ANNA – ODER: WAS VON EINEM LEBEN BLEIBT mit den Bestsellern von Florian Illies zu vergleichen. Doch wo Illies Ausrufezeichen setzt und uns selbstbewusst – vielleicht übergriffig und definitiv oft mit einem amüsierten Unterton – seine Version der historischen Persönlichkeiten vorstellt, vertraut Sußebach auf die Strahlkraft von Fragezeichen; er tastet sich an Anna heran, die keine Hauptrolle gespielt hat in ihrer Zeit, und bringt uns über die Mutmaßung, welche Auswirkung die Zeitgeschichte auf das Leben seiner Großmutter gehabt haben mag, immer wieder zum Nachdenken.

Am Ende des mit 199 Seiten viel zu kurzen – und gleichzeitig perfekt abgemessenen – Buchs haben wir vielleicht kein klar umrissenes Bild davon, wer Anna war, aber eine Idee davon, wie sie gewesen sein mag: unkoventionell und doch eine Frau ihrer Zeit; stark, weil sie es sein konnte, und vermutlich auch hart, weil es ihr nicht anders möglich war.

„Ich finde keinen Totenzettel und keine Trauerkarte, die Anna würdigen. Da ist kein Testament, kein letzter Wille. Anna geht still hinüber zu den Toten“, schreibt Sußebach am Ende seines Buchs. „Den acht Milliarden Menschen, die heute auf der Welt leben, stehen geschätzt 100 Milliarden gegenüber, die bereits gestorben sind. Die Zeit gleitet wie die Lichtleiste eines Kopierers über die Generationen hinweg: Auf Dunkel folgt kurz hell, dann wird es wieder dunkel. Es geht schnell.“

Sicher war Anna eine einzigartige Frau, so wie kein Mensch ist wie der andere. Sicher hat es viele mehr wie sie gegeben, die im Faltenwurf der Geschichte verschwunden sind. Hennig Sußebach fordert uns auf, selbst auf Spurensuche in unseren Familienstammbäumen zu gehen. Und weil die meisten von uns dies vermutlich nicht tun können oder vielleicht gar nicht wollen, empfiehlt es sich umso mehr, in ANNA – ODER: WAS VON EINEM LEBEN BLIEB ein- und abzutauchen.

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Ich habe dieses Buch nicht gekauft, sondern das Leseexemplar vom Verlag geschickt bekommen. Bei meiner Rezension handelt es sich nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung: Sie gibt lediglich meine subjektive und unbeeinflusste Meinung wieder.

Henning Sußebach: ANNA – ODER: WAS VON EINEM LEBEN BLEIBT. DIE GESCHICHTE MEINER URGROSSMUTTER. C.H. Beck, 2025.