Eine Kolumnensammlung, die in vielen Teilen gut gealtert ist … in anderen eher weniger
„Manches von dem, was ich sage, ist wahr, manches nicht, aber alles ist passiert.“
„Writing without my editor”, soll die amerikanische Bestsellerautorin Danielle Steel gesagt haben, „is like dressing in the dark”. Daran musste ich denken, als ich in Jamaica Kincaids Einleitung zu ihrer Kolumnensammlung las, dass sie bis heute „misstrauisch gegenüber Redakteuren, Lektoren“ ist, „die mir vorschlagen, wie ich dieses und jenes ändern sollte“. Trotzdem war ich sofort fasziniert von der Frau, die eine Zeit lang nur Pyjamas trug, keine Scheu hatte, Jacqueline Kennedy stehen zu lassen oder sich mit gewaltbereiten Männern anzulegen … und deren Bild nun auf dem Einband von TALK STORIES zu sehen ist (deren Übersetzung von Anna Leube und Wolf Heinrich Leube mit dezenten 23 Jahren Verspätung auch in Deutschland erschien, während die Texte den Zeitraum von September 1974 bis März 1983 abdecken).
Befragt man eine KI, was die „Talk of the Town“-Kolumne in der Zeitschrift The New Yorker ist, heißt es: „Eine beliebte Rubrik, die eine vielfältige Mischung aus kurzen Artikeln, Anekdoten, Kommentaren und Analysen bietet.“ Sie alle erzählen davon, was in New York passiert – in der Regel in der Wir-Form, um einen raunenden City Choir statt einer Einzelstimme sprechen zu lassen –, Sex und Religion sind verpönt, und das Ende darf abrupt sein. (Wenn ich mich richtig erinnere, schrieb auch Maeve Brennan für dieses Format?) Kincaids erster Text, ihre Eindrücke über den „Indian American Day Carnival“, erschien 1974, da war sie Mitte 20 und musste noch auf den Sofas von FreundInnen schlafen (oder konnte sich nur leisten, eine Matratze von der Straße in ein Zimmer zu schleppen, das sie mit mindestens einer Maus teilte); heute wird sie ob ihrer Romane in einem Atemzug genannt mit (aber nicht nur) Alice Walker und Toni Morrison.
New York in den 70er und 80er Jahren war, das hört man allüberall mit Schaudern und Sehnsucht, ein raues Pflaster – was man den 78 Texten nicht anmerkt. Kincaid schreibt über PR-Events und andere Veranstaltungen (die sie mutmaßlich auch deswegen besuchte, weil es gute Buffets gab) und über ihre Vergangenheit auf der Karibikinsel Antigua; sie hört genau hin, wenn ganz normale Menschen sprechen, und trifft Berühmtheiten wie den Komiker Richard Pryor, die Etiquette-Lehrerin Ophelia de Vore, den New Yorker Bürgermeister Ed Koch, der sich durch eine Veranstaltung langweilt. Viele der Porträtierten sagen uns heute nichts mehr … und ebenso ging es mir als Leser von geringem Verstand mit vielen der Texte, während andere von zeitloser Brillanz sind.
Durch die erste Hälfte des Buchs habe ich mich, wenn auch auf kurzweilige Art, gelangweilt, denn was in den 1970ern und 1980ern vermutlich stilistisch „the hottest shit“ war, hat für mich den besonderen Vibes verloren. Das ändert sich zum Glück in der zweiten Hälfte: Dort finden sich Texte, die formal spannender sind, weil z.B. eine Veranstaltung allein über die Aufzählung der entstandenen Kosten beschrieben wird, eine andere bedient sich der Form eines Quiz. Überhaupt ist die Bissigkeit hier amüsanter, weil die Themen knackiger sind und eine Zeitlosigkeit haben, ganz egal, ob es um eine neue Makeup-Linie geht, die von Diana Ross beworben, aber bitte auf keinen Fall etwas nur für Schwarze Frauen sein soll, um die Faszination für gekrönte Häupter oder den bereits erwähnten Besuch des Bürgermeisters. Zu meinen Highlights gehört natürlich auch die bitterböse Beschreibung des Leserinnen-Events eines Romance-Verlags, wobei die Frage offen bleibt, ob der darin erwähnte Autor möglicherweise eine Autorin war … so wie an anderer Stelle aus einem Valet (also einem männlichen „Kammerdiener“) eine Dienerin wurde.
Literaturwissenschaftlich wäre es vermutlich ein Sakrileg, aber ich hätte mir vom Kampa-Verlag den Mut zum Weglassen gewünscht, also einen schmaleren Band, bei dem die Highlights nicht durch „Ja, schrieb sie auch“ verwässert werden; verdient hätte das Buch – in dessen Anhang lobenswerterweise auf diskriminierende Sprache im Original hingewiesen wird – auf jeden Fall ein neues Vor- oder Nachwort, in dem denjenigen von uns, die nicht mit dem New Yorker aufgewachsen sind, dieses Magazin, seine Kolumne und auch die Zeit, in der die Texte entstanden, näher gebracht worden wären. Davon aber abgesehen: Ein Buch, das lohnt!
***
Ich habe dieses Buch selbst gekauft; es handelt sich bei dieser Rezension also nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung, sondern sie gibt lediglich meine Meinung wieder.
Jamaica Kincaid, TALK STORIES – Kolumnen aus dem New Yorker. Mit einem Vorwort von Ian Frazer. Aus dem Englischen von Anna Leube und Wolf Heinrich Leube. Kampa Verlag, 2024
Schreibe einen Kommentar