Warum diese Autorin immer noch „nur“ ein Geheimtipp ist, verstehe ich nicht

„Asayo – die Hübscheste von uns – hing von der New Ranch in Redwood fort und trug denselben Rattankoffer bei sich, den sie vor dreiundzwanzig Jahren auf dem Schiff mitgebracht hatte. ‚Er sieht immer noch aus wie neu.‘ Yasuko ging aus ihrer Wohnung in Long Beach fort, den Brief des Mannes, der nicht ihr Mann war, sauber zusammengefaltet in der Puderdose unten in ihrer Handtasche. Masayo ging, nachdem sie sich von ihrem jüngsten Bruder im Krankenhaus von San Bruno verabschiedet hatte, wo er Ende der Woche an Mumps sterben würde.“

Zu meinen Jahreshighlights 2023 gehört SOLANGE WIR SCHWIMMEN von Julie Otsuka, also versteht es sich von selbst, dass ich auch ihren bereits 2012 in der elegant fließenden Übersetzung von Katja Scholtz erschienenen Roman WOVON WIR TRÄUMTEN lesen wollte … lesen musste? Und jetzt ist in mir alles HUCH und ACH und HACH.

Man sollte sich nicht täuschen lassen vom schwebend leichten Titel und der Kirschblütensaumseligkeit des Umschlagmotivs – WOVON WIR TRÄUMTEN ist ein Faustschlag, der uns nur deswegen nicht Wangenknochen und Brustkorb bricht, weil all das Leid, all die Ängste, all das Dunkelgrau durch die besondere Erzählart der Autorin zu etwas veredelt werden, was ich als Leser von geringem Verstand kaum benennen, aber intensiv fühlen kann: Otsuka lässt einen Chor erzählen, in dessen raunendem „wir“ die Einzelschicksale von all jenen Frauen aufgehen – und manchmal kurz funkeln dürfen –, die mit großen Versprechen von Japan nach Amerika gelockt wurden, dort ein hartes, oft entbehrungsreiches Leben führen … und sich gerade dann, wenn für sie die Hoffnung bestehen könnte, angekommen zu sein, der Deportation in die Internierungslager des zweiten Weltkriegs unterwerfen müssen.

Julie Otsuka erzählt von enttäuschen Erwartungen und Rückschlägen, von leisem Glück, von der Härte vieler Menschen, zum Ende hin immer stärker von der Diskriminierung durch eine Mehrheitsgesellschaft, die nur dann hinsieht, wenn es zum eigenen Nutzen ist, und allzu gern vergisst, was Anstand bedeutet, wenn es so viel leichter ist, zu verurteilen, zu berauben und zu vergessen. Die Parallelen zur Shoa sind so offensichtlich, dass das Buch – ich wiederhole mich – uns niederringen könnte … wenn Otsuka nicht so eine fantastische Erzählerin wäre:

Im steten Pulsschlag des Chors und der oft nur in einem Satz angerissenen Lebensgeschichten findet sich auch immer wieder so etwas wie Hoffnung, ganz ohne leuchtende Farben, aber mit einer kleinen, unbeugsamen Kraft. Und so möchte man die Frauen im Arm wiegen, die jeden Mut verloren haben, man trauert um Kinder, die nie mehr als ein paar Atemzüge nehmen dürfen, und um Menschen, die sich auf keine helfende Hand verlassen können; aber mit gleicher Intensität möchte man den Frauen zujubeln, die überleben.

Und so ist WOVON WIR TRÄUMEN zu gleichen Teilen ein Manifest des Schreckens und ein Hohelied auf den Durchhaltewillen. Ein schmales, gerade einmal 156 Seiten starkes Buch, das einiges verlangt von uns, aber auch sehr viel gibt (nur nicht ein abschließendes Kapitel, das ich mir sehr gewünscht hätte, in dem der Chor uns daran teilhaben lässt, was nach den Internierungslagern geschah). Vielleicht sollte man sich also doch täuschen lassen von Titel und Umschlag, weil es dieses Buch – das man vielleicht nicht zur Hand nehmen würde, wenn man den Inhalt kennt – so wert ist, gelesen zu werden.

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Ich habe dieses Buch selbst gekauft; es handelt sich bei dieser Rezension also nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung, sondern sie gibt lediglich meine Meinung wieder.

Julie Otsuka: WOVON WIR TRÄUMEN. Aus dem Englischen von Katja Scholz. mare Verlag, Rowohlt Verlag, 2012