Es macht vielleicht keinen Sinn, ein vergriffenes Buch vorzustellen? Aber es macht glücklich. Also: mich.
„An der Bar ein Junge | der aussieht als hätte ihn | Botticelli erdacht nach | Zeichenstudien in SO 36 || Er hat Arbeiterhände | wie aus einem Defa-Film | und das Profil | der Präraffaeliten || Außen fast Florenz | aber innen nur Kreuzberg | denkt neidisch sein Nachbar | der außen sehr Hannover | aber innen ganz Hellas ist“
Er war laut TAGESSPIEGEL „der einzige Dandy der deutschen Gegenwartsliteratur“, DIE ZEIT feierte ihn als „Virtuosen des Leichtsinns“ – aber weil Detlev Meyer (1948–1999) zu den Hausheiligen eines Menschen gehörte, aus dessen Leben ich mich nach einem kurzen Gastspiel zur allgemeinen Erleichterung verabschiedete, habe ich nie Interesse verspürt, sein Werk kennenzulernen.
Was möglicherweise ein Fehler war, denn mit „Im Dampfbad greift nach mir ein Engel“ hat er eine der besten Titelformulierungen ever, ever and ever gefunden … und mit einigen der 50 reim- und rhythmuslosen Gedichten, die 1992 unter dem Titel HEUTE NACHT IM DSCHUNGEL veröffentlicht wurden, hat er mein jahreswechsliges Herz beglückt, auch wenn ich bezweifle, dass ich mit dem Ehrentitel „Eine Mascha Kaléko der Glory Holes“ richtig liege – und ihm mit „Kristiane Allert-Wybranietz im Darkroom“ Unrecht tue.
(Wer sich an dieser Stelle fragt, warum er*sie die Rezension eines Lesers von geringem Verstand, der keine Ahnung von Lyrik hat, über Gedichte lesen sollte, die arg aus der Zeit gefallen sind, für den habe ich nur diese Antwort: Ist mein Lesetagebuch, hier tippe ich und kann nicht anders.)
Meyer nimmt uns in seinen kurzen Texten mit in Bars und Discos, beweint seine Jugend, brezelt sich auf für den Tuntenball (beziehungsweise: er tut es gerade nicht), ist die meiste Zeit sehr konkret und dann doch wieder nicht, wenn „Schmeichelcreme-Affären an Kling-Klang-Tischen“ uns trotz schönem Klang verwirren und wir Phillip Eulenburg vermutlich alle erst einmal googeln müssen. Warum es aber doch lohnt, sich schnell ein Exemplar der Restauflage zu sichern, die es zum Zeitpunkt dieser Rezension noch gibt in der Berliner Buchhandlung Eisenherz und sonst mutmaßlich in Internet-Antiquariaten?
Zum einen ist die englische Broschur mit seinen geschlossenen Viertelbögen ein Handschmeichler und die Bilder des Künstlers Jan Schüler von eigener Strahlkraft; zum anderen ist es faszinierend, hier einen Gruß aus der Vergangenheit zu vernehmen, aus einer Zeit vor Internet und Grindr und „Ehe für alle“, in dem sechs Zeilen einen ganzen Abend – ach was, eine ganze Lebensrealität – unter dem Titel „Kitsch im Zwitscherstübchen“ zusammenzurren: „Mireille Mathieu beschwört: | ‚Tage wie aus Glas …‘ | und macht für 2 ½ Minuten | die Scherben der Nacht vergessen | die man auch nicht mit | Apfelkorn runterspült“.
Nicht jeder Text schreit danach, ein drittes oder viertes Mal gelesen zu werden, und doch ist man immer wieder mitten im Gedankenkarussell und fragt sich, was aus jenen Freunden wurde, die im Café Einstein lamentierten; man erinnert sich daran, wie man selbst – mit oder ohne Banana-Split – durch die Nachtclubs zog, um Tarzan zu finden; man jubelt dem Erzähler zu (und vielleicht sich selbst), wenn er festhält, dass er den Hinz überwunden hat und den Kunz auch noch schafft.
Aber der Abbinder eines auf sich selbst verfassten Nekrologs ist es dann, der mich besonders lange umtrieb: „Verkleinert nichts und | fügt auch nichts an Bosheit zu || Vielleicht sagt ihr dies: | Treu war er nicht || aber als Tunte immer solidarisch“
Damals, 1992, war das vielleicht ein bisschen rotzig, 19 Jahre nach dem Film „Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt“, 12 Jahre nach „Taxi zum Klo“ (und 13 Jahre vor „Brokeback Mountain“). Heute ist es eine Selbstbezeichnung, die es so in einem selbstverfassten Nachruf sicher nicht mehr geben würde … und die im Zeitalter von „Royal Blue“ und Co. vermutlich geradezu Punk ist. Oder?
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Ich habe dieses Buch selbst gekauft; es handelt sich bei dieser Rezension also nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung, sondern sie gibt lediglich meine Meinung wieder.
Detlev Meyer: HEUTE NACHT IM DSCHUNGEL – 50 Gedichte. Eremiten Presse Verlag, 1992
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