Mit großem Atem, den viele Schreibende erst nach vielen Jahren ihres Schaffens haben, erzählt Anna Maschik in WENN DU ES HEIMLICH MACHEN WILLST, MUSST DU DIE SCHAFE TÖTEN von vier Generationen einer Familie: von dem, was sehr real ist, und dem, was nicht sein kann, aber trotzdem wahr bleibt.
„Wir betreten die Geschichte durch die Innereien eines Schafes und wie auch ich die Welt betreten habe: durch einen Schnitt im Unterleib. Die Nabelschnur hat sich dreimal um meinen Hals gewunden wie ein Strick, und so schneidet die Hebamme meiner Mutter einen lachenden Mund in den Bauch, holt mich heraus und näht ihr das Lachen zu einem schiefen Lächeln zusammen. Ich möchte mich vorstellen, ich bin Alma, und meine Erzählung ist eine Eingeweideschau: Leber, Lunge, Herz und Magen werden auf ihre Beschaffenheit untersucht.“
Es ist eins der tollsten Bücher, die ich in diesem Jahr gelesen habe, eins, das mich mit seiner feinen, fast tanzenden Erzählweise regelrecht verzaubert hat – und das, obwohl der Titel eine ganz andere Sprache zu sprechen scheint: WENN DU ES HEIMLICH MACHEN WILLST, MUSST DU DIE SCHAFE TÖTEN.
Anna Maschik, Jahrgang 1995, erzählt in ihrem literarischen Debüt von vier Generationen einer Familie: Von Henrike, zur Jahrhundertwende auf einem Bauernhof an der Nordsee geboren, von ihrer ungeliebten Tochter Hilde und deren Bruder Benedikt, der schlafend zur Welt kommt und erst erwacht, als er schon ein junger Mann ist, der sich alsbald für die Parolen der Nazis begeistert. Hildes Sohn Wolfgang wird noch auf dem Hof geboren, sein Bruder David schon in der neuen Heimat in Österreich, und dort, im Haus der anderen Großeltern, kommt dann auch Miriam auf die Welt, Almas Mutter.
Habe ich damit jetzt schon den ganzen Roman verraten? Natürlich nicht. Denn um all diese Figuren webt Anna Maschik Geschichten, die manchmal von Liebe geprägt sind und oft vom Gegenteil: So schenkt sie uns einen Roman, in den man sich fallen lassen kann, weil es ein Vergnügen ist, sich von den kurzen Kapiteln durch Almas Familiengeschichte treiben zu lassen.
Das Buch beginnt mit dem Schlachten eines Schafs – und doch erzählt Anna Maschik vor allem vom Leben in all seinen Facetten
Es passiert sehr viel auf diesen gerade einmal 232 Seiten, auch wenn die Autorin einige davon nahezu unbeschrieben lässt, weil eine Überschrift manchmal keinen Text mehr benötigt, um ein großes Drama zu erzählen. WENN DU ES HEIMLICH MACHEN WILLST, MUSST DU DIE SCHAFE TÖTEN ist ein archaisches Buch, nicht nur beim Schlachten eines Schafes sehr kreatürlich, und dann an anderer Stelle zart und fast meditativ, wenn die Autorin davon erzählt, wie ein Toter gewaschen wird.
Die Frau, die diese Aufgabe übernimmt, ist Nora, die Leichenfrau, die stets Schwarz trägt, das aber in der Kammer ablegt, denn die Toten, so erfahren wir, nehmen ihr die Farben nicht übel. Nora war immer schon da, so wie Anna, die Hebamme, die bei jeder Geburt zugegen ist; fast könnte man den Eindruck haben, Anna Maschik hat die drei Moiren der griechischen Mythologie in neue Gewänder gehüllt, bei denen Alma den Part der mittleren Schwester übernimmt, indem sie uns durch das Leben all dieser Menschen führt.
Diese Leben sind immer wieder von magischem Realismus durchdrungen: Da wird Gemüse weiß, ein Mann verschläft sein Leben, während ein anderer auch im Grab nicht von seiner Pfeife lassen kann. Und eine Frau, die Mutterkorn isst, um kein weiteres Kind zu bekommen? Sieht Bilder, die uns später noch begegnen werden. Alles in diesem Buch ist miteinander verwoben, bezieht sich aufeinander; das gilt auch für die Zitrone, die wir auf dem Umschlag sehen. Die ist allerdings zu ordentlich geschnitten für die entsprechende Szene im Buch, die mich getroffen hat, aber auch umarmt. Denn egal, ob es gerade brutal zugeht oder nichts: WENN DU ES HEIMLICH MACHEN WILLST, MUSST DU DIE SCHAFE TÖTEN ist ein Roman, der uns zum Schwelgen bringt.
Wer meine Rezensionen kennt, der weiß, dass ich kritisch bin – aber während ich Anna Maschiks Roman lese, ist in mir nichts als ein glücklich staunendes „Ohh“
Eine so besondere Geschichte kann nicht chronologisch erzählt werden, und so sind wir im einen Moment bei den Kartoffeln, die eine Urgroßmutter kocht, und im nächsten Moment bei Alma, die denkt, man könne auch Kuscheltiere, Hosen und Bücher so anpflanzen; wir erleben mit, wie Almas Mutter geboren wird, so widerständig, dass sie sogar eine Stricknadel überlebt, und erfahren im nächsten Moment, wie deren Oma in ihrer Jugend Röcke aus Fallschirmseide nähte, die der Krieg in den Ruinen gesammelt hat.
In meinen Rezensionen zitiere ich gerne viel und ausführlich aus den Texten, die mich begeistern, und dass ich es diesmal nicht mache, liegt daran, dass man eigentlich das ganze Buch abtippen möchte, um dem allen noch einmal nachzuspüren. Also schlage ich nun einfach eine Seite auf, die ich wie so viele andere markiert habe, und lese und schreibe und erfreue mich dabei an:
„Die Mutter und ich besuchen die Großmutter an jedem Wochenende, obwohl es ein weiter Weg ist aus der Stadt. Ich sitze an ihrer Bettkante und halte ihr das Kreuzworträtsel ganz dicht vor die Nase, während die Mutter laut das Fernsehprogramm vorliest. Sobald ich das Zimmer verlasse, hält die Mutter Hildes Hand und sagt, Mama, Mama, probiert das ungewohnte Wort auf der Zunge aus. Einmal sagt Hilde zu ihr, jetzt bin ich doch froh, dass ich dich bekommen habe.“
WENN DU ES HEIMLICH MACHEN WILLST, MUSST DU DIE SCHAFE TÖTEN liest sich wie ein Buch, das bei vielen Schreibenden als Höhepunkt am Ende ihres Schaffens steht. Dass Anna Maschik mit ihrem Debütroman weder auf der Long- noch der Shortlist des Deutschen Buchpreises zu finden war, verwundert sehr (und noch ein bisschen mehr) – denn dieser Roman hat meiner Meinung nach jeden Applaus verdient.
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Ich habe dieses Buch nicht gekauft, sondern als Rezensionsexemplar vom Verlag erhalten. Bei meiner Rezension handelt es sich trotzdem nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung: Sie gibt lediglich meine subjektive und unbeeinflusste Meinung wieder.
Anna Maschik: WENN DU ES HEIMLICH MACHEN WILLST, MUSST DU DIE SCHAFE TÖTEN. Luchterhand, 2025.


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