Wenn das Erschreckende, das Bewegende und das Heitere nah beieinander liegen: Tahsim Durgun begeistert mit seinem erzählenden Sachbuch MAMA, BITTE LERN DEUTSCH
„Ich weiß nicht, wie es ist, Angst davor zu haben, die eigene Muttersprache zu sprechen. Ich weiß nicht, wie es ist, wenn türkische Soldaten das eigene Dorf durchsuchen. Und ich weiß auch nicht, wie es sich anfühlt, seinem Kind einen Namen zu geben, der nicht kurdisch klingt, um es zu schützen. Auch wenn ich all diese Erfahrungen nicht gemacht habe, spüre ich die verbliebene Furcht meiner Mutter und ihre damit verbundene Angst, in ihr Dorf zurückzukehren – auch wenn sie sich so sehr danach sehnt.“
Er ist schlau, sexy und erfolgreich – den ungeschriebenen Gesetzen des Marktes folgend musste also ein Buchvertrag folgen. Dass er damit sofort den Sprung auf die Bestsellerliste geschafft hat, liegt zunächst sicher an seiner Popularität; dass MAMA, BITTE LERN DEUTSCH sich dort halten konnte, hat aber einen anderen Grund: Tahsim Durgun hat ein richtig gutes Buch geschrieben.
„Ich schreibe dieses Buch, weil es einen Zusammenhang gibt zwischen der Tatsache, dass meine Mutter zwar Alliterationen verwendet, diese aber nie wird erklären können, Alice Weidel, uns als Feindbild und meiner Hauptschulempfehlung“, schreibt Durgun in der Einleitung seines „biographischen Werks“, das er aber (weil er weder Mallala mit Vor- noch Wollny mit Nachnamen heißt) nicht als Biographie missverstanden wissen möchte: „Ich nehme dich mit auf eine kleine Reise durch alles, was ich in meinen 28 Jahren erlebt habe.“ Und so reiht er in sieben Kapiteln Anekdoten aneinander aus dem, was eigentlich nichts anderes sein sollte als eine ganz normale deutsche Kindheit und Jugend … aber dadurch erschwert wird, dass dieser Deutsche nicht den entsprechenden Pass hatte, weil seine Eltern in der Türkei geboren wurden; noch dazu als jesidische Kurden, was in ihrem Herkunftsland verschiedene Diskriminierungen bedeutete, die auch in ihrer neuen Heimat nicht geringer wurden.
MAMA, BITTE LERN DEUTSCH macht betroffen und wütend
Tahsim Durgun schreibt über Jungenstreiche und seinen Opa, aber vor allem darüber, was es heißt, einen anderen Namen und eine andere Herkunft zu haben als ein Maximilian, Alexander oder Kevin. Zu den Anekdoten, die auch deswegen am stärksten in Erinnerung bleiben, weil sie beim Lesen weh tun, gehören der Förderunterricht in der Schule, der weder pädagogisch wertvoll sein will noch integrationsfördernd genannt werden darf, und einen grauenhaften Termin bei der Ausländerbehörde, bei dem der Mutter des Autors auf zweierlei Weise Gewalt angetan wird – psychische durch eine Sachbearbeiterin, die nicht bereit ist zu helfen, indem sie so etwas simples wie Kopien macht, und physische durch einen Sicherheitsmann, der so ein Ventil für seinen Hass findet.
Geht’s auch etwas weniger brutal? Ja – und nein. Denn auch die durchaus launige Schilderung eines Schul„basars“, bei dem Mütter Solidarität als Privileg verstehen, das sie einer Frau nicht zugestehen, die ihre Sprache nicht versteht, hinterlässt einen bitteren Nachgeschmack. Und das Schlimmste? Tahsim Durgun wurde 1995 geboren (weswegen er – ich nehme sofort schaudernd die eingangs salopp gewählte Kategorie „sexy“ zurück – mein Sohn sein könnte), noch dazu im nicht als Brennpunkt verdächtigen Oldenburg; wer wie ich die Hoffnung hatte, dass es manche Formen der Vorurteile und Diskriminierung spätestens seit der Jahrtausendwende nicht mehr gibt, täuscht sich natürlich.
MAMA, BITTE LERN DEUTSCH ist aber nicht nur Anklageschrift gegen eine Gesellschaft, die zu dumm ist, die Arme auszubreiten, sondern – wie der Titel verrät – Ringen mit der eigenen Familie: Tahsim Durgun lässt uns daran teilhaben, wie schwer es für ein Kind ist, für die Mutter übersetzen zu müssen (in der Schule, beim Arzt, auf dem Amt), und dass diese Verantwortung auch für einen Jugendlichen belastend ist. Immer wieder bekommen wir außerdem eine Ahnung davon, wie schwer es sein muss, zwei Mütter zu haben: Die liebevolle, witzige, schlagfertige – und die Frau, die nach einem halben Leben in Deutschland die Sprache immer noch nicht beherrscht.
Die Liebeserklärung an eine Mutter – und vielleicht auch eine an alle Mütter, die sich nicht einschüchtern lassen
Tahsim Durguns Ton ist von einer posenhaften Rüpeligkeit, hinter der man anderes vermuten darf; er bricht unser Herz, wenn er seine Mutter „Ich traue mich nicht zu träumen. Ich wurde nicht dafür gemacht.“ sagen lässt – und bewahrt gleichzeitig ihre Würde:
„Ich bin nicht perspektivlos“, zitiert er sie: „Ich habe die Schrecken dieser Welt aus mehr Perspektiven gesehen, als sie sich vorstellen können. Ich habe viele Perspektiven, ich bin eine Sammlerin von Perspektiven. […] Mach dir keine Sorgen um deine Mutter, mein Sohn. Sie ist stärker, als du denkst.“ Und dann bringen Mutter und Sohn auf den Punkt, was sehr oft sehr falsch läuft in unserem Land (und vermutlich auch im Denken des Mannes, der aktuell unsere Kanzlerin ist): „Was mich am wütendsten macht, ist ihre Verlogenheit. Immer nur fordern und nie zufrieden sein, ihre Bitten sind immer heiß, aber ihre Dankbarkeit ist kalt.“
Was Tahsim Durguns „Eingliederungsversuch in eine geschlossene Gesellschaft“ – wie der Untertitel lautet – trotz der schweren Themen zu einem durchaus schwungvollen Vergnügen macht, ist die Ausgewogenheit von Hart … und Härter: Der Autor teilt sarkastisch aus, schont sich dabei vielleicht ein bisschen mehr als seine Geschwister, und schnoddert sich durch viele der 200 Seiten, die man sich auch als Bühnenprogramm vorstellen könnte. Und in denen Sätze wie „Die Ehe meiner Eltern ist wie Carmen Geiss – erschreckend laut und trotzdem liebevoll“ zeigen, dass Durgun neben der Rolle des sozialpolitischen Chronisten auch die des Entertainers beherrscht.
Fast bin ich versucht zu sagen, dass es schade ist, dass er ein Sachbuch geschrieben hat: Tahsim Durgun könnte sich durchaus einreihen zwischen literarische Hausheilige wie Fatma Aydemir und Necati Öziri – und der postmigrantischen Literatur eine weitere, aufregende Klangfarbe schenken. (Was ich vermutlich auch deswegen schreibe, weil ich morden würde für ein weiteres Kapitel mit Mareike und ihrer Mutter – ich nehme an, beide spielten im Leben des Autors keine weitere Rolle, aber heissa hopsa Lillebror, wie gut würden sich die beiden in einem Roman machen!)
Ist MAMA, BITTE LERN DEUTSCH ein einmaliger Höhepunkt – oder der Start von etwas großem?
Hat mich das Buch durchgehend begeistert? Nee. Es fehlt für mich letztendlich sogar einiges, ein stärkeres Einspüren in die Lebenswelt und Vergangenheit der weiblichen Hauptfigur, der Wille zum größeren erzählerischen Atem; wahrscheinlich würde das den Rahmen eines Sachbuchs sprengen. Trotzdem ist MAMA, BITTE LERN DEUTSCH auch in der vorliegenden Form schon die Lieberklärung eines Sohns an seine Mutter, dessen eigene „Heldenreise“ nur beginnen konnte, weil sie den nötigen Weitblick hatte:
„In Niedersachsen wird den Eltern der vierten Klasse am Ende des Jahres eine Schulempfehlung ausgesprochen“, erinnert sich Durgun, womit er übrigens 1:1 das erzählt, was mir eine Generation davor in NRW passiert ist: „Spoiler: Mir wurde die Hauptschule empfohlen. Zum Glück hielt sich meine Mutter nicht an diese fragwürdige Empfehlung und meldete mich stattdessen an einer Gesamtschule mit gymnasialer Oberstufe an. Die beste Entscheidung, die sie treffen konnte.“
Wird dieses Buch ein One-Hit-Wonder? Ich hoffe nicht – und stattdessen, dass wir in ein paar Jahren auf MAMA, BITTE LERN DEUTSCH zurückschauen werden und es als EP verstehen, mit der die breitgefächerte Discographie von Tahsim Durgun beginnt.
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Ich habe dieses Buch nicht gekauft, sondern von einer Freundin geschenkt bekommen, die beim Verlag arbeitet. Bei meiner Rezension handelt es sich trotzdem nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung: Sie gibt lediglich meine subjektive und unbeeinflusste Meinung wieder.
Tahsim Durgun: MAMA, BITTE LERN DEUTSCH – Unser Eingliederungsversuch in eine geschlossene Gesellschaft. Knaur, 2025.
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