Der Debütroman ÖFFNET SICH DER HIMMEL von Seán Hewitt wird Lesende begeistern, die versonnen an den Pfirsich in CALL ME BY YOUR NAME denken. Ich gehöre leider nicht dazu.
„In jenem Alter bedurfte es nicht viel, um eine Fantasie in Gang zu setzen, und nun kannte ich seinen Namen: Luke, Luke, Luke. Er klang warm, jungenhaft, tief. Ich hatte den Jungen nicht vergessen, seit ich ihn zum ersten Mal gesehen hatte, aber jetzt konnte er Gestalt annehmen. […] Er musste jemanden brauchen, und braucht nicht auch ich jemanden? […] Ich kannte ihn nicht, aber innerhalb weniger Minuten hatte ich mich bereits an die Vorstellung geklammert, seine Verlassenheit könnte ihn zugänglicher für mich machen.“
Ich atme tief ein und tief aus. Und schreibe entspannt diese Rezension: ÖFFNET SICH DER HIMMEL, der in der Übersetzung von Stephan Kleiner erschienene Debütroman des preisgekrönten irischen Dichters und Schriftstellers Seán Hewitt, erzählt die bittersüße Geschichte einer Liebe, die größer ist als alles, was die jugendliche Hauptfigur James bis zur ersten Begegnung mit Luke für möglich gehalten hat. Mehr noch: Es ist eine Liebe, die das Heranwachsen überdauert und immer noch eine Rolle spielt im Leben des erwachsenen James, der seinen Heimatort besucht.
Man kann den Roman ÖFFNET SICH DER HIMMEL aus guten Gründen lobpreisen
Seán Hewitt erzählt vom Schmerz des Andersseins, von einer Obsession und einem Hoffen, das ein Jahr in James‘ Leben vereinnahmt und überschattet. Wie der Autor dieses gewittergepeitschte Gefühlschaos vermittelt, kann uns den Atem rauben. Und wie er die Ängste von James herausarbeitet, der seit seinem Outing nicht mehr weiß, wie er mit anderen Menschen sprechen soll – insbesondere mit den heterosexuellen Jungen und Männern, die ihm Bedrohung und Verlockung sind –, das habe ich in dieser konzentrierten Form lange nicht gelesen. Der Klappentext attestiert dem Buch „die beeindruckenden sprachlichen Mittel eines großen Dichters“; zweifelsfrei kann man festhalten, dass Seán Hewitt seiner Formulierungsfreude frönt.
ÖFFNET SICH DER HIMMEL ist ein Buch für alle, die sich in die Schwüle von CALL ME BY YOUR NAME fallen lassen können, beim Gedanken an BROKEBACK MOUNTAIN seufzen und Kränze winden für die Seelenpein, der wir bei James Baldwin begegnen. „Eine berührende, soghafte Elegie“ nennt Daniel Schreiber das von ihm gefeierte „Meisterwerk“, und Helen McDonald setzt mit „Besser kann mein Herz nicht schmerzen“ den Punkt unter das Ausrufezeichen.
Diesem Schlussfanal müsste ich nichts hinzufügen, man kann den Roman genau so lesen, verstehen, genießen. Wer dies tun möchte, stoppt an dieser Stelle und eilt in den Buchhandel.
Man kann den Debütroman von Seán Hewitt aber auch ganz anders einordnen
Ich atme tief ein und tief aus. Und warne: Achtung, Spoiler! Und eine andere Tonlage, denn ich habe beim Lesen des 282 Seiten umfassenden Schmachtschinkens oft gedacht: Are you fuckin kidding me?
Ich möchte meine Meinung zu diesem Roman auf drei Ebenen einordnen: Inhalt, Sprache, Gesamtaussage. Auf diesen lässt er mich, obwohl ich die oben aufgeführten Qualitäten anerkenne, fassungslos zurück.
Fangen wir mit dem Inhalt an. ÖFFNET SICH DER HIMMEL ist meiner Meinung nach an Einfallslosigkeit kaum zu überbieten:
James ist einsam; verliebt sich Hals über Kopf in den gleichfalls vom Leben gebeutelten Außenseiter; hofft, bangt, ist Wahnvorstellungen nah, wenn er meint, von Lukes kriminellen Vater verfolgt zu werden; gegen Ende laufen die beiden davon, für gerade mal eine (keusche) Nacht. Hernach reist Luke ab, James leidet, und sein kleiner Bruder, von dem wir sicher waren, dass er die Kerngeschichte nicht überlebt, stirbt im Off.
Kann man so machen, klar. Und die Konzentration auf die Seelenpein-Twinks, bei der alle anderen Figuren nur Zaungäste sind, werden viele Lesende großartig finden. Ich fands vorhersehbar, öde und nur in dem Rahmen nachvollziehbar, dass man in der Pubertät (noch dazu in einer, in der Homosexualität eine Zusatzebene an emotionalem Hurlyburly bedeutet) alles schmerzlich begehrt, was einen Puls hat und verfügbar ist. Und mehr als Anwesenheit und „lange Muskeln“ hat Luke nicht zu bieten.
Eine austauschbare Handlung wird auch durch Empfindsamkeits-Zuckerwatte nicht besser
Reißt es die Sprache raus? Viele Lesende werden sagen: Ja! Seán Hewitt schreibt bildreich, tuscht mit kräftigen Farben und, zugegeben, fängt mich immer wieder ein. Wer in die Leseprobe schaut, bekommt ein gutes Gefühl für das ganze Buch:
„Ein einzelner Sommer wandelt sich zu einem schimmernden Licht, das, kaum hat es sich in Gedanken eingestellt, beinahe augenblicklich in einen dunklen Winter gefasst wird, eine Wiederkehr der Schwärze […]. Und dann sendet der Garten seinen Schnee aufwärts, in den Himmel, liest die herabgefallenen Blätter wieder auf und erblüht umgekehrt von Neuem.“
Wer literarisch so arbeitet, der läuft Gefahr, sich in Zuckerwattewolken zu verlieren. Und das tut Seán Hewitt, besonders, wenn er gegen Ende so viel Bedeutungskrawehl auf die Buchseiten donnert, dass es unfreiwillig komisch wird:
„Über dem Wasser schwebte ein Chor von Mücken in der Luft, und die späte Sonne schimmerte durch sie hindurch, während sie ihre wogenden Kreise zogen und dann plötzlich ins Licht gerieten wie die Funken eines Feuers, das das Wasser nicht erreichen und löschen konnte.“
Ja, okay. Auf der nächsten Seite: „Gänsehaut erhob sich auf meinen Armen“, mutmaßlich, weil der Anblick zweier sich auf der Suche nach Wärme aneinanderreibender Pferde (gleichfalls pubertierender Hengste?) den Erzähler arg erregt. „Ich konnte nicht glauben, wie sehr ich mich in alles hineinsteigern konnte“, stellt James fest. „Eine gewisse Kälte sammelte sich in der Luft, und der Tau senkte sich nieder, wobei ‚Niedersenken‘ eigentlich gar nicht das richtige Wort war“ – No shit, Sherlock! – „es erschien einfach aus dem Nichts auf dem Gras und auf den grünen Zeltwänden.“
In diesem Zelt wird James alsbald so detailliert von seinen intimen Beobachtungen der Mitschülerinnen berichten (was zum Grenzüberschritt hochstilisiert wird, mich aber kalt ließ, weil die Mädchen keine weitere Rolle spielen), dass der im drängenden Saft schmorende Luke sofort Hand an sich legen muss: „Der Ahornbaum über uns träufelte noch dicke Tropfen des abendlichen Regens auf das Zeltdach“, in Lukes Schlafsack wird’s aus anderen Gründen klebefeucht. Und dazu passt: „Die Abende waren seit Wochen klar und kühl, irgendwie elektrifiziert von den blauen Nächten“ – Abende werden von Nächten unter Strom gesetzt? Gewagt! – „und den flinken, klickenden Geräuschen der Insekten. […] Draußen schlug eine Ringeltaube wie ein Metronom an, wiederholte sich irgendwo in den Bäumen über uns. Ich konnte kaum einen Gedanken fassen.“ Ich auch nicht, Seán, ich auch nicht.
Man kann das alles schön finden, als Elegie und Meisterwerk feiern; mir blieb dieses Glück verwehrt, zumal mit dem Wichs-und-weiter-Moment klar ist, dass für James außer emotionalen Spesen am Ende nichts gewesen sein wird. Vollkommen okay: Eine Jugendliebe, so allumfassend sie einen Sommer lang ist, darf genau das sein.
Repräsentation ist wichtig – doch leider nicht jede …
Was aber ist die Gesamtausgabe des Romans? Die ist der Grund, warum ich ÖFFNET SICH DER HIMMEL nicht einfach zur Seite legen kann wie andere Bücher, die durch Overwriting versuchen, über Inhaltsleere hinwegzutäuschen. Seán Hewitt bettet seine Erinnerung an jeden aus der Zeit gefallenen Sommer 2002 in eine Rahmenhandlung ein, die 20 Jahre später spielt – und in der wir erfahren, dass James seine Obsession nie überwunden hat, dass das unerfüllte Sehnen nach Luke sein Leben überschattet und nun gerade auch zur Trennung von seinem Ehemann geführt hat.
Es wird Lesende geben, die das stark und bewegend finden; ROMEO UND JULIA gilt vielen ja auch als Inbegriff von Romantik, obwohl ich einfacher Geist einen Doppelselbstmord nicht ganz so töfte finde … Im Zusammenhang mit dem New-Adult-Genre wird viel über die Tropes gesprochen, die lautstarken Handlungsmuster, die für junge Lesende zu den ausschlaggebenden Kaufgründen zählen. Nun wird man in ÖFFNET SICH DER HIMMEL zwar trotz viel „slow burn“ kein „Grumpy meets Sunshine“ finden, dafür aber eine Extradosis des Topos „Der Schwule hat kein Glück verdient“.
Warum ich ÖFFNET SICH DER HIMMEL von Seán Hewitt ärgerlich finde
Dass man in Romanen, die in früheren Zeiten geschrieben wurden oder dort angesiedelt sind, kein Happyend erwarten sollte: okay. Dass schwule Charaktere in Büchern, die in den 1980/90ern spielen, AIDS zum Opfer fallen: ja, das ist düsteres Zeitkolorit und oft Teil der Aufarbeitung.
Aber das ein Autor, der 2025 eine Geschichte veröffentlicht, die 2002 spielt, trotzdem nichts anzubieten hat als die Glorifizierung einer Hoffnungslosigkeit, die hier als Synonym für gleichgeschlechtliches Begehren behandelt wird? Kann man machen, klar. Wird sicher ein großes Publikum finden. Bedient aber meiner Meinung nach unter dem Deckmäntelchen der Literatur jene Ressentiments, die wir in der Ära Trump/Putin/Orban (und wie sie alle heißen) nicht mehr brauchen. Und darum empfinde ich ÖFFNET SICH DER HIMMEL – obwohl ich dem Verlag dafür applaudiere, ein queeres Buch ins Programm zu nehmen – als irritierend, als vertane Chance und Ärgernis.
Benjamin Myers lobt den Roman als „zärtlich, zeitlos und wahrhaftig“. Hoffen wir für (den übrigens in einem Video, das ich sah, sehr sympathischen) Seán Hewitt und für (uns) alle, die in ihrer Jugend Einsamkeit, Gefühlschaos und unglückliche queere Liebe empfunden haben, dass die Wahrheit eine andere sein wird.
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Ich habe dieses Buch nicht gekauft, sondern das Leseexemplar vom Verlag geschickt bekommen. Bei meiner Rezension handelt es sich nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung: Sie gibt lediglich meine subjektive und unbeeinflusste Meinung wieder.
Seán Hewitt: ÖFFNET SICH DER HIMMEL. Aus dem Englischen von Stephan Kleiner. Suhrkamp, 2005.
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