Es „Buch der Stunde“-t kräftig, wenn Charlotte Runcie ein Füllhorn aktueller Fragen ausgießt – und hervorragend unterhält mit ihrem Roman STANDING OVATIONS.

„Die Frauen, auf die Alex stand, waren gebildet, kunstaffin und ehrgeizig. Sie waren Autorinnen und Regisseurinnen, Redakteurinnen, Agentinnen. Und Schauspielerinnen. Er hatte, wie er mir erzählte, vor Kurzem beschlossen, nicht mehr mit Frauen unter vierundzwanzig zu schlafen, nachdem eine von ihnen ihn als ‚Softboi, nur in alt‘ bezeichnet hatte, was ihm vorgekommen war, als würde er in einer völlig fremden Sprache beleidigt. […] Immer war er vorübergehend mit irgendwem liiert. Sein Verhalten gegenüber Frauen machte es mir schwer, in Alex einen Freund zu sehen, ließ sich bei einem Kollegen aber gerade noch tolerieren.“

Alex Lyons ist vieles: Ein Mann mittleren Alters, aus manchen Blickwinkeln noch sexy wie ein Model; ein Theaterkritiker, der gallig gegen alles austeilt, was seinen Ansprüchen nicht genügt; der Sohn einer gefeierten Theater-Diva, der in seiner Kindheit jede Menge Glamour erleben durfte, aber möglicherweise wenig Liebe. Der sich in all seinen Beziehungen gut verhalten hat – zumindest in seiner Wahrnehmung … Man kann also auch Zweifel haben, ob Alex wirklich ein okayer Typ ist. Und zwar noch bevor er mit einem saftigen KAWUMM im Shitstorm der Windstufe 12 landet.

STANDING OVATION von Charlotte Runcie ist ein ebenso spannender wie kurzweiliger Roman, den man entspannt lesen kann, obwohl diverse seiner Themen unseren Pulsschlag in die Höhe treiben: Alex Lyons verreißt zum Start des legendären Fringe-Festivals in Edinburgh mit großer Häme die One-Woman-Show der Amerikanerin Hayley Sinclair – und trifft sie, nachdem er seine Ein-Stern-Rezension an die Redaktion geschickt hat, in einer Bar. Hayley sieht gut aus. Sie ist beschwipst. Sie zeigt deutliches Interesse. Und es kommt, wie es kommen muss: Alex schläft mit ihr – und als bitterböse Morgengabe liest Hayley ein paar Stunden später die öffentliche Hinrichtung ihrer Karriere.

Männer behalten die Deutungshoheit? Nicht in STANDING OVATIONS von Charlotte Runcie!

Noch am selben Tag dreht Hayley den Spieß um: Statt auf der Bühne weiter über die Zerstörung der Umwelt zu sprechen, prangert sie eine andere Form von Gewalt an. DIE SACHE MIT ALEX LYONS wird sofort zur Sensation, zumal Hayley ab dem zweiten Abend Verflossene von Alex einlädt, ihre Sicht der Dinge zu erzählen. Sie alle zeichnen das Bild eines Mannes, der kalt ist, selbstverliebt, emotional brutal … und der Überzeugung, dass er zu all dem berechtigt ist. Für eine breite Öffentlichkeit, die hier intime Details erfährt, ist der Fall klar: Alex = Drecksack. Aber ist es so einfach?

STANDING OVATIONS wird erzählt von der jungen Journalistin Sophie Rigden, die gemeinsam mit Alex nach Edinburgh gekommen ist, um über Kunstausstellungen zu schreiben (und nebenbei ihrer Hauptaufgaben nachzukommen, der Überarbeitung von Nachrufen auf bekannte Persönlichkeiten, die bei Zeitungen auf Halde liegen für den richtigen Zeitpunkt). Sie teilen sich eine Wohnung, und so bekommen wir Lesenden hautnah mit, wie Alex kurz cool bleibt, wie er nicht verstehen kann, warum man ihm Vorwürfe macht, wie er sich zu rechtfertigen versucht und dann wenig schlau zum Gegenangriff übergeht. Dabei klammert er sich lange an die Hoffnung, dass der Shitstorm abflachen wird. Aber Hayley ist inzwischen landesweit zur Galionsfigur geworden für Frauen, die von Männern schlecht behandelt werden.

Hier wird nicht mit dem Skalpell seziert, sondern mit dem Baseballschläger für klare Ansagen gesorgt …

Der Reiz des von Katharina Martl fließend aus dem Englischen übersetzen Romans liegt daran, dass kein Zweifel daran gelassen wird, was für ein Arsch Alex Lyons ist – aber eben ein „ganz alltäglicher“, ein Mann, der sich in seinem Wertekosmos eingerichtet hat … und ein Stück weit verloren. Charlotte Runcie verlangt nicht von uns, Verständnis für ihn aufzubringen; sie lässt aber offen, ob wir es trotzdem empfinden können, ohne sein Verhalten zu entschuldigen. Und so, wie im Buch schließlich Menschen anfangen, gegen Hayley zu demonstrieren, können auch wir jenseits aller Misogynie ihre (höchst befriedigende) Racheaktion in Frage stellen: Ist ein alttestamentarisches „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ gerechtfertigt?

Charlotte Runcie fächert das alles clever vor uns auf, und deswegen frage ich mich, ob es die Parallelhandlung wirklich braucht: Sophie hat eigene Probleme, die im Lauf der Geschichte Bedeutung bekommen. Natürlich stören die Fallstricke einer Mutterschaft und ihrer Beziehung, die sich mit der letzten Presswehe geändert hat, nicht, sie halten auch nicht auf – aber ich frage mich, wie viel schärfer Sophies Blick auf Alex Lyons hätte sein können, wenn die Autorin ihr nicht die (man möge mir das verzeihen) „handelsüblichen Probleme“ an den Hals geschrieben hätte. Was mir deutlich besser, weil ausgesprochen gut gefällt: Wie Sophie damit zu hadern beginnt, was es auch für sie bedeutet, die Kunst anderer Menschen zu beurteilen.

STANDING OVATIONS ist ein Roman, der – wie eingangs erwähnt – flott und barrierefrei von männlichem Verhalten erzählt, dem man (ob nun berechtigt oder reflexartig) den Stempel „toxisch“ geben kann, ohne außer Acht zu lassen, dass auch Frauen sich nicht immer vorbildlich verhalten. Ich denke, dass er für ein breites Publikum ein Gewinn ist. Und natürlich hält Charlotte Runcie allen, die Kritiken schreiben oder Rezensionen, professionell oder als Hobby, den Spiegel vor: Wie berechtigt ist Kritik, die sich nicht immer nur auf eine Inszenierung, ein Kunstwerk oder einen Text bezieht, und wie gerecht ist es, wenn dabei auch die Menschen ange- und besprochen werden, die auf Bühnen stehen oder ein Buch schreiben?

Wer für den Sommer einen Roman sucht, der auf clevere Art unterhält, macht nichts verkehrt mit STANDING OVATIONS von Charlotte Runcie

Die Autorinnen Claire Lombardo und Kiley Reid attestierten STANDING OVATIONS (neben mutmaßlich fünf Sternen) auch, dass es witzig und komisch ist. Dies entspricht sicher dem im englischsprachigen Raum etwas anderen Verständnis von Comedy, bei dem ich zögere, ihn mit dem deutschen gleichzusetzen. Als witzig habe den Roman definitiv nicht empfunden, maximal als Satire, wobei hier meiner Meinung nach nichts überzogen ist, sondern erschreckend real bleibt. Aber das zeigt einmal mehr, dass Charlotte Runcie eine Geschichte erzählt, die vielschichtiger ist, als man ob des plakativen Hauptthemas annimmt. Und was gibt’s darum jetzt am Ende dieser Rezension? Passend zum Titel: APPLAUS!

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Ich habe dieses Buch nicht gekauft, sondern mir von einer Freundin schenken lassen, die beim Verlag arbeitet. Bei meiner Rezension handelt es sich nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung: Sie gibt lediglich meine subjektive und unbeeinflusste Meinung wieder.

Charlotte Runcie: STANDING OVATIONS. Aus dem Englischen von Katharina Martl. Piper, 2025.