Janine Adomeit hat mit DIE ERSTE HALBE STUNDE IM PARADIES eins jener Bücher geschrieben, die man eigentlich nonstop ans Herz drücken möchte – was aber nicht geht, da man ja unbedingt weiterblättern und ein Kapitel nach dem anderen verschlingen will.
„In meinen Ohren rauschte es. Nur Singen konnte einen schweben lassen. Und obwohl ich wusste, dass die Musik nicht mein größtes Talent war und dass ich nie so eine kraftvolle, leuchtende Stimme haben würde wie Kai, geschweige denn wie meine Mutter, war mir das ab diesem Moment egal. Mein Gesang musste nicht perfekt sein, nicht einmal schön. Denn es stimmte, was unsere Mutter immer sagte: Man kann nicht gleichzeitig singen und Angst haben.“
Ein Meer weißer, wolliger Rücken – und mittendrin ein Auto, in dem Anne sitzt, gemeinsam mit ihrem Bruder Kai und der Frage: Wie, um Gottes Willen, ist sie hier gelandet? Ausgerechnet mit dem Mann, den sie seit ihrer Teenagerzeit nicht mehr gesehen hat, gefangen von einer Herde robuster Fjordlandschafe, die sich keinen Millimeter bewegen. Dabei ist Anne doch in den letzten Jahren mit Vollgas über die Karriere-Überholspur gebrettert, weil sie emotionalen Ballast gar nicht erst zugelassen hat. Wann kann sie wieder Gas geben?
DIE ERSTE HALBE STUNDE IM PARADIES ist ein hinreißender Roman: bewegend, weil er vom schwierigen Heranwachsen zweier Geschwister mit einer kranken Mutter erzählt; auf warmherzige Art humorvoll, wenn es um die kleine Anne geht, und auf grimmige Weise, wenn die erwachsene versucht, ihren fragwürdigen Lebenstraum umzusetzen. Und noch dazu hat Janine Adomeit ein spannendes Buch geschrieben, denn man erfährt erst spät, was zum Bruch zwischen den Anne und Kai geführt hat, die in ihrer Kindheit unzertrennlich waren.
Mit viel Feingefühl umgeht Janine Adomeit einen der Stolpersteine, den viele Autor*innen nicht kommen sehen
Ich bin kein Fan von Coming of Age-Geschichten und finde es nervig, wenn Kinder in Büchern viel zu weit sind für ihr Alter. Umso mehr ist mir die kleine Anne ans Herz gewachsen, der ich ihr „Erwachsensein“ glaube, weil Janine Adomeit sie trotzdem Kind sein lässt: wenn Anne große Pläne für sich und ihre beste Freundin schmiedet, von denen wir schnell ahnen, dass sie sich nicht in die Realität umsetzen lassen. Oder wenn sie ins magische Denken verfällt und sicher ist, ihrer erkrankten Mutter wieder Bewegungsfreiheit zu schenken, indem sie selbst so viele Schritte wie möglich macht. Und natürlich in solchen Momenten, wenn Anne von ihrer eigenen Weisheit überzeugt ist … und wir Lesende darüber schmunzeln können:
„Es war zwar nicht so, dass ich unserer Mutter keine Freundschaften gegönnt hätte. Aber wir konnten einfach keinen Mann in unserem Leben gebrauchen. Er hätte keinen blassen Schimmer von unserer Organisation zu Hause und worauf er achten müsste, wenn er mit unserer Mutter etwas unternehmen wollte. Stattdessen würde er uns nur Zeit kosten und Extraarbeit machen. Außerdem wusste ich mittlerweile, wo die kleinen Kinder herkamen, zumal unserer Mutter mal herausgerutscht war, dass sowohl Kai als auch ich nicht geplant gewesen waren. Wir konnten uns wirklich nicht auch noch um ein versehentliches Baby kümmern.“
Sind die beiden Zeitebenen, auf denen Janine Adomeit ihren Roman erzählt, gleich stark?
Mit der gleichen Begeisterung, mit der unser Herz für die kleinen Anne schlägt, können wir uns auch über die erwachsene wundern: Sie braucht noch 20 Punkte im hausinternen Ranking-System, um den nächsten Karriereschritt beim US-Pharmaunternehmen P & H zu machen, der sie auf einen der begehrten Innendienst-Plätze befördern soll – und die wird ihr ein Vortrag über das Fentanyl-Pflaster einbringen, mit dem der Konzern die Palliativmedizin erleichtern und die Kassen zum Klingeln bringen will. Wenn Anne vor allem durch ihr Außendienst-Einsatzgebiet definiert zu sein scheint (sie ist „Nördliches Schleswig-Holstein“), ihre neue Chefin für Umsatz über Leichen gehen würden und alle Kolleg*innen Konkurrenz sind, die es misstrauisch zu beäugen gilt, ist das vermutlich in gleichen Teilen Zerrbild und realitätsnah. Und Humor hat das auch; sagt ja keiner, dass der immer heiter sein muss.
Ausgerechnet in die Vorbereitungen zu diesem wichtigen Tag platzt nun ein Anruf, auf den Anne hätte verzichten können: Nach Jahren der Funkstille meldet sich ihr Bruder Kai, weil er aus einer Suchtklinik entlassen wurde, aber nicht weiß, wie er die Tage bis zu seinem Einzug in ein Wohnprojekt überbrücken soll. Und ich verrate nicht zu viel, wenn ich sage, dass Kais Abhängigkeit etwas mit dem Medikament zu tun hat, in das Anne ihre Hoffnungen steckt.
Spricht denn gar nichts gegen dieses Buch?
Man ist versucht, die 270 Seiten in einem Rutsch zu lesen, wird sich in jedem Kapitel und auf beiden Zeitebenen sehr gut unterhalten fühlen – und kann am Ende durchaus kritisch anmerken, dass Janine Adomeit es sich hin und wieder etwas einfach macht: Vielleicht werden Jahre der Verbitterung zu zügig abgestreift, vielleicht ist ein gebrochener Knöchel ein allzu praktischer Grund, um einem wichtigen Ereignis in der Vergangenheit fernzubleiben. Und ist ein Detail, das gegen Ende über Kai enthüllt wird, möglicherweise wenig überraschend, sondern ein „Ach ja, das nun auch noch“? Ja. Aber das macht … absolut nichts!
DIE ERSTE HALBE STUNDE IM PARADIES ist eine Geschichte, mit der wir uns selbst etwas Gutes tun wie mit einem kühlen Kissen im Sommer oder einer warmen Decke im Winter, ein Buch voller schöner Momente – zum Beispiel, wenn die kleine Anne sich in einen Kleiderhaufen fallen lässt und man gar nicht weiß, ob man vor Freude weinen soll oder vor Rührung. Oder wenn uns die Autorin mit Gedanken wie diesem verwöhnt:
„Meine Mutter hatte Kai und mich […] geboren. Wobei mir diesen Vorgang der Ausdruck ‚zur Welt gebracht‘ besser gefiel. Ich stellte mir gern vor, wie unsere Mutter erst mit Kai und ein paar Jahre später mit mir im Arm durch die Schwärze des Alls auf einen kleinen blassblauen Punkt zugeschritten war, einen Punkt, der allmählich größer wurde, zu einem Globus, und das Blassblaue war Wasser, eine Unmenge Wasser, und die Kontinente trieben dazwischen so herum. Mit Schreien und Blut hatte das Zur-Welt-Bringen in meiner Fantasie jedenfalls nichts zu tun.“
DIE ERSTE HALBE STUNDE IM PARADIES setzt aber nicht nur auf Emotion, sondern auch auf alltägliche Lebensphilosophie wie dieser:
„Fakt ist, es gibt nur eine einzige Realität, in der wir alle leben; gleichzeitig sind unsere Erfahrungen so unterschiedlich, dass es genauso gut unendlich viele Realitäten sein könnten. Dass alles objektiv messbar, aber nichts objektiv bewertbar ist, muss so etwas wie die Urtragödie menschlichen Empfindens sein.“
Und wenn mir wirklich kein Grund einfällt, warum ihr diese Familiengeschichte – noch dazu mit einer Mutter, die wir schütteln möchten, sie durch den Blick ihrer Tochter aber trotzdem ins Herz schließen – nicht sofort auf eure Wunsch- und Leseliste setzen solltet, dann … wisst ihr nun hoffentlich, was ihr tun solltet.
Und wie wäre es zum Abschluss noch mit einem letzten Zitat, um euch den Charme von Janine Adomeits Wohlfühlroman nahe zu bringen? Aber gerne doch:
„Ich las das Buch vor allem deshalb, weil es voller Schimpfwörter war, die unsere Mutter mir nie erlaubt hätte zu sagen oder überhaupt zu kennen. Es fühlte sich gut an, diese Wörter zu sammeln; ein kleines Waffenarsenal. Für später, wenn ich es mal brauchte. Denn irgendwann brauchte man das, ganz sicher.“
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Ich habe dieses Buch nicht gekauft, sondern das Leseexemplar vom Verlag geschickt bekommen. Bei meiner Rezension handelt es sich nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung: Sie gibt lediglich meine subjektive und unbeeinflusste Meinung wieder.
Janine Adomeit: DIE ERST HALBE STUNDE IM PARADIES. Arche Verlag, 2025
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