Anne Sauers Romandebüt IM LEBEN NEBENAN begeistert über die besondere Grundidee hinaus – auch Menschen, die keinen erfüllten oder unerfüllten Kinderwunsch haben.
„In unregelmäßigen Abständen gab Toni die Namen ihrer Ex-Freunde bei Google ein, zumindest von denjenigen, auf die sie ab und zu noch sauer war. Zu keinem hatte sie noch Kontakt, warum auch. Adam war die Ausnahme. Mit ihm hatte sie sich alles vorgestellt, ausgemalt, sogar mit potenziellen Kindernamen. Wenn es ein Mädchen wird, dann. Sie waren sechzehn, sie wussten alles und wirklich überhaupt nichts.“
Was wäre, wenn? Drei Worte, zwei Satzreichen, aber ein Kosmos voller Möglichkeiten: Was wäre, wenn etwas passiert, wenn etwas nicht passiert, wenn ich dies getan hätte oder jenes gelassen? Wir treffen jeden Tag eine Vielzahl meist kleiner und manchmal großer Entscheidungen, und sie alle können eine Auswirkung haben auf unser ganzes Leben. Zu den größeren gehört sicher die Frage, ob man Kinder haben möchte oder nicht … und was man bereit ist, dafür zu tun und zu opfern. (Da ich mich nachfolgend mit dem Inhalt des Romans auseinandersetze, sind Spoiler nicht zu vermeiden.)
Welche Grundkonstellation wirft Anne Sauer in ihrem Roman IM LEBEN NEBENAN schwungvoll über den Haufen?
Toni hat’s gut getroffen: An ihr altes Leben auf dem Land denkt sie nur, wenn es um ihren Vater geht, der noch dort lebt; die Erinnerung an Adam, mit dem sie zu Schulzeiten zusammen war, ist dagegen nur etwas für nostalgische Momente. Viel zu glücklich ist Toni im Hier und Jetzt, in der Stadt, die sie liebt, mit Jakob, der ein absoluter Glücksgriff ist, und mit dem Gedanken an das Kind, das sie beide bekommen wollen. Aber leider klappt das nicht so, wie die Biologie es angeblich vorgesehen hat. Und zwischen Hormonspritzen und Sex nach Stundenplan formt sich für Toni die Frage, ob sie wirklich so unbedingt ein Kind haben möchte. Aber was wird das für ihr Leben bedeuten … und ihre Beziehung zu Jakob?
Und dann wacht Toni eines Morgens auf – und alles ist anders: Sie hat ein Kind, noch gar nicht lange, und zwar mit Adam, den sie doch viele Jahre nicht gesehen hat. Warum lebt Toni plötzlich wieder auf dem Land und in einem Leben, das sie nie haben wollte? Toni sucht verzweifelt nach einem Ausweg, aber das ist gar nicht so einfach, weil sie müde ist, so unendlich müde. Und ihre kleine Tochter? Weint und trinkt und schreit und wacht, kaum dass sie eingeschlafen ist, wieder auf … um dann wieder zu weinen und zu trinken und zu schreien …
Eine spannende Idee – nicht ganz neu, aber frisch interpretiert
IM LEBEN NEBENAN hat mich sofort neugierig gemacht, denn Anne Sauer bedient sich einer spannenden Idee, der ich Ende der 1990er Jahren zum ersten Mal in „Sliding Doors“ begegnet bin: In diesem Film entwickelt sich das Leben der von Gwyneth Paltrow gespielten Helen in zwei unterschiedliche Richtungen, als es ihr gelingt, im letzten Moment durch eine sich schließende U-Bahn-Tür zu springen – während sie in der anderen Realität zusehen muss, wie der Zug ihr vor der Nase wegfährt. Eine reizvolle Variante dieser Idee ist, das eine Frau aktiv von einer Realität in die andere springen kann wie im Roman EHEMÄNNER von Holly Gramazio oder in der sehr amüsanten TV-Serie SLIP, in der eine Frau immer dann in ein neues Leben katapultiert wird, wenn sie einen Orgasmus hat.
Bei Anne Sauer weiß Toni nichts von Antonia, wie ihre Inkarnation „im Leben nebenan“ zur einfacheren Orientierung genannt wird – aber Antonia sehnt sich in ihr bisheriges Toni-Leben zurück. Und obwohl diese Spielart ihren Reiz hat, funktionierte sie für mich nach der anfänglichen Begeisterung zunächst nur bedingt: Zu halbherzig empfand ich Antonias Versuche, wieder Anschluss an ihr altes Leben zu finden, zu sehr schien sich die Autorin darauf zu verlassen, dass es reicht, die Überforderung einer jungen Mutter dadurch zu steigern, dass sie sich im wahrsten Sinne des Wortes im falschen Leben wiederfindet.
Kann ich als Mann diesen Roman so lesen, wie eine Frau ihn empfinden wird?
Ich denke, dass mein kurzes zwischenzeitliches Fremdeln mit dem Roman vor allem daher rührt, dass ich – als kinder- und kinderwunschloser CIS-Mann – nur eine vage Ahnung davon habe, was es für eine Frau bedeuten kann, auf einmal ein Kind zu haben … und mich die Müdigkeit, die Überforderung, die Verzweiflung ab einem gewissen Punkt nicht mehr mitleiden ließen. „Bisschen viel jetzt, oder?“, fragte ich mich – und schämte mich dafür.
Warum fiel es mir so viel leichter, mich auf die Realitätsebene einzulassen, in der Großstadt-Toni selbstbestimmt eine Entscheidung trifft? Die Frage hat mich genauer hinschauen lassen. Und auf einmal war sie dann auch wieder da, die Begeisterung für das Leben „nebenan“: Anne Sauer nutzt die Idee eben nicht, um einen Genre-Roman zu schreiben, der die Grenzen des Faszinosums auslotet, sondern über das potentielle Damoklesschwert Mutterschaft zu schreiben – und so auch das wichtige Thema der postpartalen Depression auf ungewöhnliche Art zu beleuchten. So krass Anne Sauer bereits in der ersten Szene des Buchs einen Spontanabort beschreibt, so sehr hat mich später im Buch dann auch diese Szene die Luft anhalten lassen:
„Sie hört den anrollenden Zug, das Flirren im Gleisbett, hebt leicht den Blick. Der Kinderwagen, nur kurz anstoßen müsste sie ihn. Dann wäre es vorbei. Mit dem Brüllen. Mit ihr, mit alldem hier. Dann würden sie sie wirklich wegbringen, endlich wegbringen, irgendwohin, Hauptsache nicht mehr zurück in dieses Haus. Dann wäre Ruhe, denkt sie noch, bevor alles dunkel wird.“
Anne Sauer stellt in ihrem literarischen Debüt IM LEBEN NEBENAN viele Frage, ohne den Lesenden eine Antwort zu diktieren
Wann muss man den Schlussstrich ziehen unter einen Traum, der dabei ist, zum Albtraum zu werden? Wie sagt man „Nein“ zu einem Menschen, der ein „Ja“ in der gerade noch gemeinsamen Lebensplanung erwartet? Wie findet man ein Zuhause dort, wo man niemals seine Heimat gesehen hat? Und ist die Liebe zum eigenen Kind von höheren Mächten in die DNA programmiert? Das sind nur einige der Fragen, die Anne Sauer in ihrem Romandebüt verhandelt. Am Rande streift die Geschichte aber auch Themen, bei denen man auch als kinder(wunsch)loser Mensch aus eigener Erfahrung mitfühlen kann – so zum Beispiel ein Klassentreffen, auf das man nicht gehen will … oder wäre es vielleicht toll, wenn man dort eine Rolle spielt, die man sich selbst nicht glaubt?
„Anne Sauer zu lesen ist wie Serie schauen“, begeistert sich die Autorin Ruth-Maria Thomas im Rückseitentext: „Mitreißend und süchtig machend!“ Da gehe ich mit: IM LEBEN NEBENAN ist barrierefrei erzählte Unterhaltung, temporeich, mit vielen starken Momenten und Themen, die ohne literarisches Donnern angeboten werden, aber gerade deswegen unterstreichen, was für ein Talent Anne Sauer ist.
Ob professionelle Literaturkritiker*innen den Roman nach 267 augenfreundlich gesetzten Seiten ebenso befriedigt zuklappen werden? Das kann mir als Leser von geringem Verstand zum Glück egal sein: Ich applaudiere der Autorin und habe hoffentlich bessere Antennen dafür entwickelt, dass die so harmlos wirkende Frage, ob neue Zahnpasta gekauft wurde, ganz schön ruppig sein kann (und obwohl mich das nicht in meiner Lebensrealität abholt, kann ich mich nickend darüber amüsieren, dass die „Mutter von Mats“ sagt: „Ich liebe meinen Mann mehr, wenn er nicht zuhause ist.“).
Außerdem erfreue ich mich immer noch an dem zarten, vielleicht alltäglichen, aber doch besonderen Moment, wenn Antonia in der Küche tanzt (zumal ich seit Jahren ein Verfechter von „Dancing with Myself“ bin). Und das Ende des Romans? Mag ich sehr! Denn da, wo manche Debütautor*innen ins Straucheln geraten, dreht Anne Sauer noch einmal auf. Vielleicht kann sich Dr. Stephen Strange eine Scheibe von ihr abschneiden? Denn IM LEBEN NEBENAN muss kein „Multiverse of Madness“ sein, um Blockbuster-Appeal zu haben.
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Ich habe dieses Buch nicht selbst gekauft, sondern vom Verlag als Rezensionsexemplar erhalten. Bei meiner Rezension handelt es sich trotzdem nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung, sondern sie gibt lediglich meine Meinung wieder.
Anne Sauer: IM LEBEN NEBENAN. dtv, 2025.
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