Achtung: Diese Rezension fasst mein WTF zusammen …

„Abends war ich wieder im Park, und da stand er herum wie fahrendes Volk. Mir ist klar, dass man nicht herumstehen kann wie etwas, das fährt, und man kann es doch. Er konnte es. Er war barfuß und trug ein T-Shirt, das weit war, weit wie die Welt, wenn nicht Häuser und Brücken und Schallschutzmauern im Weg stehen. Narr und König haben etwas gemeinsam: Was sie tun, tun sie für jene, die ihre Augen auf sie heften. Ich heftete meine Augen auf den König.“

Der Freund, der mir dieses Buch schenkte: auch ohne polierte Heldenrüstung ein Lichtstrahl im Dunkel! Der bedruckte Leineneinband und das Lesebändchen: ein Träumchen! Das Buch: die mit Abstand größte Enttäuschung meines Lesejahres. Mehr sollte ich dazu vermutlich nicht sagen, aber als Leser von geringem Verstand muss ich mir das pochende WTF nun doch aus dem System tippen. Spoilers ahead!

Chris verliebt sich Hals über Kopf, wäm-bäm und kazonk, auf den ersten Blick in Koller, doch statt im Taumel der allerfeinsten Hochgefühle direktemang ans Meer zu fahren, müssen sie einen Umweg machen, der nicht unbedingt die Ortskenntnis erhöht, aber allerlei Gelegenheit bietet, um die tanzenden Endorphine zumindest zwischenzeitlich abzukühlen. Außerdem treten auf: eine Schwester, die Koller lange nicht besucht hat, und ein Kind, von dem er nichts wusste, im weiteren Verlauf ein abgelassener Gartenteich und ein Koi, der das unwahrscheinlichste Comeback feiern darf, seit Jesus sich aus dem Grabe erhob. Halleluja, mögen da nun viele denken, und tatsächlich verstehe ich, warum man sich in KOLLER mit einem zugewandten Seufzen hineinfallen lassen kann. Klappte bei mir nur leider so gar nicht.

Vermutlich war es nicht Annika Büsings Intention, TSCHICK 2.0 zu schreiben und sich dabei ein wenig an Mariana Lekys zur liebenswerten Versponnenheit neigenden Erzählstil heranzurobben, aber genau so habe ich KOLLER empfunden. Das liegt nicht einmal an dem erwartbar un-geradlinigen Roadtrip, der die Hindernisse verlässlich ansteuert, sondern an den meiner Meinung nach vollkommen misslungenen Hauptfiguren. Koller und Chris, mutmaßlich eher Ende als Mitte 20, benehmen sich so, wie sich in meiner Vorstellung pubertierende Manga-Fan-Girls „so richtig niedliche schwule Jungs“ zusammenträumen – ein großes Hangen und Bangen, bei dem der im einen Moment noch überdimensioniert geliebte bi- oder pansexuelle Mann allerdings im nächsten (und noch dazu in einem der Schwäche) als „Tunte“ bezeichnet wird, und zwar nicht, um ihn mit dieser Äußerung zu kitzeln oder ärgern, sondern um eine Aussage über ihn zu treffen. Man stelle sich vor, dies hätte die Autorin über ein heterosexuelles Paar geschrieben („Oh, es geht ihr gerade schlecht, und dabei sieht sie echt wie eine Schlampe aus.“), der Aufschrei wäre vermutlich groß gewesen … Aber weil Chris ein Mann ist, der mit vielen Ausrufezeichen versehene Ecken und Kanten haben soll, fällt das scheinbar eben so wenig ins Gewicht wie der Umstand, dass er ein – natürlich auf seine Mutter zurückzuführendes – Problem mit Frauen hat: Sie sind zumeist Nebenbuhlerinnen, die seine tiefsitzenden Verlustängste triggern, „Gurkenfässer“, ruppig, skrupellos oder schlecht erzogen (es sei denn, sie verschwinden so schnell aus der Handlung wie Kollers Schwester). Soll vermutlich einfach die komplexe Innenwelt von Chris spiegeln … wirkte auf mich aber wie ein gewisser Pick-me-Girl-ismus der Autorin, der ich damit vermutlich Unrecht tue.

Überhaupt, die Autorin: Annika Büsing kann schreiben, manchmal sogar wunderbar, und die eingeschobenen Rückblicke auf das Leben von Chris‘ Mutter und Kollers Großmutter sind ein Vergnügen, auch wenn man diese sich gegen den Strom stemmenden Lebensentwürfe alle schon in anderen Geschichten kennengelernt zu haben meint. Aber warum muss sie die Hauptfiguren zu Fähnchen im emotionalen Wind degradieren? Warum macht sie nichts aus der Katastrophe im Ahrtal, statt diese einfach nur als Hindernis-gebenden Zeitkolorit zu trivialisieren … und hätte man auf die ebenfalls nur nebenbei erwähnten Masken möglicherweise ganz verzichten können, weil sie so wie ein „ach ja, da war was“ wirken? Und dann tritt am Ende auch noch ein „Schamane“ auf, von dem unklar bleibt, warum er diesen Namen trägt oder die Aufgabe hat, die ihm von der Autorin gegeben wird. Ein hübscher Effekt, ja, aber weder er noch der wundersam gerettete Kai namens Dean Martin haben das Okapi-Potential, auf das hier meiner Meinung nach zu sehr geschielt wurde.

„Diese Autorin kann wirklich Geschichten erzählen“, wird im Rückseitentext aus der WAZ zitiert, und ich wünschte, Annika Büsing hätte es wirklich getan, statt einfach nur eine Idee auszupolstern, in der zumindest für mich viel fehlt (so wie auch ein großes E und ein Satzzeichen am Ende des zweiten Jubelzitats von „WDR 2 Loslesen!“).

***

Ich habe dieses Buch im Rahmen einer Verlosungsaktion gewonnen; es handelt sich bei dieser Rezension also nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung, sondern sie gibt lediglich meine Meinung wieder.

Annika Büsing, KOLLER. Steidl Verlag, 2023