Verena Keßler tut geschickt so, als hätte sie einen Roman über Muskelaufbau und Trainingsgeräte geschrieben – dabei erzählt GYM fesselnd und schwungvoll die Geschichte eines Kontrollverlusts.
„Ich trainierte stets so, dass sie mich sehen konnte. Sehen musste. Gab Laute von mir, Stöhnen, Ächzen, Schnaufen, stemmte die Hände in die Hüften, sah mich atemholend um, als vermäße ich mein Hoheitsgebiet. Trafen sich dabei unsere Blicke, wich ich nicht aus. Doch unser stummes Nicken hatte sich verändert. Was zuvor ein Erkennen war, war jetzt eine Warnung.“
Der in Chicago ansässige Künstler Andrew S. Conklin hat mit „Seated Athlet, Facing Right“ aus seinem Zyklus „Motion Pictures Paintings“ ein Bild geschaffen, das unseren Blick einfängt, aber auch Fragen aufgibt: Warum lehnt die Frau in den Trainingsklamotten mit dem Oberkörper auf einem Barhocker, während sie auf einem Hocker mit Rollen sitzt, der jederzeit in Bewegung geraten könnte? Das Bild lässt uns an die Posen denken, in denen Alte (und andere) Meister Frauen eingefangen haben, ist aber gleichzeitig modern sowie ein bisschen rätselhaft, wenn man sich über den „Ui, schön!“-Moment hinaus damit beschäftigt … und deswegen das perfekte Motiv für den Roman, dessen Schutzumschlag es schmückt.
In GYM erzählt die Schriftstellerin Verena Keßler von einer namenlosen Hauptfigur, die uns zunächst sympathisch wird, weil sie sich mit einer Notlüge aus einer unangenehmen Situation befreit: Als der Chef des Fitnesscenters, für das sie als Thekenkraft arbeiten möchte, darauf anspielt, dass ihr Körper nicht dem Idealbild entspricht, mit dem sein MEGA GYM wirbt, kontert sie, dass sie vor drei Monaten Mutter geworden sei. Und schon hat sie den Job; Ferhat, ihr neuer Chef, ist schließlich laut eigener Aussage Feminist …
Aus dem Prolog wissen wir, dass dieser Körper sich bald verändern wird: Die Frau bodybuildet ihn zum handelsüblichen Lustobjekt, straff, „schön“, den Besuchern des Studios dargeboten wie das üppige Obst auf einem Stillleben – auch, um den Männern zu gefallen, vor allem aber, weil die Frau es liebt, sich so zu inszenieren. Sie kontrolliert ihr Bild, das andere sehen; sie erarbeitet sich so eins, das sie selbst betrachten möchte. (Ab hier kann mein Text Spoiler enthalten.)
GYM von Verena Kessler spielt mit unseren Erwartungshaltungen, enttäuscht einige – und das ist auch gut so!
Ist GYM ein Female-Empowerment-Roman, in dem wir der Hauptfigur zujubeln dürfen? Ja, sicher. Und nein, absolut nicht. Dabei wird zunächst nur die Notlüge aus dem Vorstellungsgespräch umfangreicher, weil die Hauptfigur Kinderfotos zeigen muss, um ihren Mutterbonus aufrecht zu erhalten. Dann aber beginnt sie, zu trainieren. Ferhat, der ihr den Trainingsplan zusammenstellt, muss darum wissen: „Wo willst du hin?“ – und meint damit ihren Körper. Wohin die Autorin will, das zeigt sich dadurch, dass die Hauptfigur diese Frage kennt – denn es ist dieselbe, die ihre Bewährungshelferin gestellt hat. Und dabei ging es nicht um Bizeps, Pectoralis und Gluteus …
Auf gerade mal 189 Seiten erzählt Verena Keßler die Geschichte einer Frau, die sich die Deutungshoheit über ihr Leben zurückerobern will – und dabei unaufhaltsam auf einen Kontrollverlust zusteuert. Obwohl wir schnell ahnen, dass wir es mit einem „unreliable narrator“ zur tun haben, also einer Erzählerin, der man nicht trauen darf, hat GYM mich mehr als einmal überrascht und begeistert. Auch, wenn es zum Ende hin eklig wird, richtig eklig.
Wie die Erzählerin sich um Normalität bemüht, Fuß fasst, für kurze Zeit ihr Glück findet in der Übererfüllung der Aufgabe, die sie sich selbst stellt, dann aber in die Obsession mit einer Bodybuilderin rutscht, bei der offen bleibt, ob sie erotisch getrieben ist oder einem Machthunger geschuldet: Das wird mit klarer, geradliniger Sprache erzählt – und so, dass es bis zur allerletzten Seite schwierig bleibt, sich zu entscheiden, ob man mitfühlen soll oder schaudern.
Ist die Hauptfigur in GYM Opfer, Täterin, brillant oder das Gegenteil?
Verena Keßler erzählt von einer Gesellschaft, in der Frauen „funktionieren“ sollen, um Anerkennung zu bekommen, vom Ringen, das damit einher geht, und dem Hunger nach mehr, aber auch von mangelnder Solidarität unter Frauen. Wir wollen die Hauptfigur schützen, die in der Vergangenheitsebene der Geschichte erst nach uns Lesenden begreift, wie übel ihr mitgespielt wird … und bekommen dann in einem Nebensatz vor den Latz geballert, dass sie alles andere als so „unschuldig“ ist, wie wir angenommen haben.
Als Thomas Harris die Figur des Hannibal Lecter geschaffen hat, wusste er, dass es die brillanten Monster sind, die uns am längsten und liebsten in Erinnerung bleiben. Verena Keßler kopiert dies nicht (und nein, sie hat auch nicht über einen kannibalistischen Psychopathen geschrieben), sondern gibt der Erkenntnis aus tausendundeinem Spannungsroman ihren ganz eigenen Spin. Und am Ende? Möchte man jubeln, obwohl es inhaltlich betrachtet keinen Grund dafür gibt. Aber dafür weiß man, und zwar nicht erst nach der letzten Seite, dass man ein großartiges Buch gelesen hat, das nachbrennt wie ein Muskelkater.
„Er kapierte einfach nicht, dass man es im Leben erst dann wirklich geschafft hat, wenn man es niemandem mehr erzählen musste“, legt die Autorin ihrer Figur in den Mund. Wir können also davon ausgehen, dass Verena Keßler dies auch nicht mehr tut – denn sie ist mit diesem schmalen Kinnhaken-Roman schon ganz weit oben angekommen.
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Ich habe dieses Buch nicht gekauft, sondern vom Verlag als Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt bekommen. Bei meiner Rezension handelt es sich nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung: Sie gibt lediglich meine subjektive und unbeeinflusste Meinung wieder.
Verena Keßler: GYM. Hanser Berlin, 2025.
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