Mit SEE YOU LATER zeigt Alan Bennett einmal mehr, warum man ihn lieben kann, vielleicht sogar dringend sollte – auch wenn nur die Hälfte des Buchs überzeugt.

„Der Name und die erhöhte Lage machten Hill Topp zu einer begehrten Adresse, während die unmittelbar benachbarte Einrichtung Low Moor kein bisschen begehrt war und ein ziemliches Loch darstellte. Low Moor war ein mahnendes Beispiel für die Bewohner von Hill Topp dafür, was ihnen drohte, wenn sie sich danebenbenahmen. Hill Topp war sicher nicht vollkommen, aber Low Moor war der Beweis, dass es viel schlimmer sein könnte.“

Wer mein öffentliches Lesetagebuch schon länger verfolgt, der weiß, dass ich Bewunderung und große Sympathie empfinde für Alan Bennett, was mich auch darüber hinwegsehen lässt, dass sein deutscher Verlag in Ermangelung beständig sprudelnder neuer Stoffe inzwischen auch zur reizvollen Resterampe des britischen Autors geworden ist.

Deswegen räumen wir schnell aus dem Weg: SEE YOU LATER setzt sich aus zwei Texten zusammen, dem mit HAUSARREST überschrieben Ausschnitt aus dem Bennett’schen Tagebuchs während der Pandemie und der vorangestellten Kurzgeschichte ZEIT TOTSCHLAGEN – und diese ist es wert, den wie immer bei Wagenbach Salto schmuck in rotes Leinen eingebundenen Handschmeichler zu kaufen, zu lesen und zu lieben.

Wo siedelt man SEE YOU LATER im schillernden Oeuvre von Alan Bennett an?

Ich werde nicht müde, darauf hinzuweisen, dass Alan Bennetts großer Bestseller DIE SOUVERÄNE LESERIN zwar sein kommerziell erfolgreichstes Buch ist, aber nicht notwendigerweise auch sein bestes; stattdessen hege ich große Bewunderung für die Geschichte HAND AUFLEGEN, erschienen in VATER, VATER LICHTERLOH. Dort erzählt Bennett mit spürbarem Vergnügen und ätzendem Humor von der Trauerfeier für einen Mann, der in den Leben (und Betten!) der Reichen und Schönen eine Rolle gespielt hat. Aber was kommt vor dem Tod? Das Leben! Oder zumindest das, was noch davon übrig ist …

Märchen enden bekanntlich mit der Formel „Und wenn sie nicht gestorben sind“, und das gilt nun auch für die ProtagonistInnen in ZEIT TOTSCHLAGEN: Sie leben, puzzeln und entblößen sich in einem britischen Alterswohnsitz, der nicht ganz so vergnüglich ist wie jener, den man aus den Bestsellern von Richard Osman kennt. Das Entblößen findet entweder in beiderseitigem Einverständnis statt – der gutgebaute Fensterputzer betätigt sich auch als Mann für gewisse Stunden – oder auch ohne Consent, denn der alte Mr Woodruff neigt dazu, sich den Damen von Hill Topp aufzudrängen:

„Alles, was den Puls ein wenig in die Höhe trieb, war nicht zu verachten. Gemeint war damit zwar eher Selbstbefriedigung, doch für Woodruff fiel Selbstentblößung in die gleiche Kategorie, denn die erhöhte seinen Puls und war daher zu begrüßen. Es gab jedoch ein Problem: Dank seiner gelegentlichen Inkontinenz war Woodruff mit ‚so einem Plastikding‘ ausgestattet worden, wie er es nannte. Wollte er heute seinen Penis finden, musste er eine Weile danach forschen. Und das war nicht recht, das sah er ein. Auch für Exhibitionismus gab es eine Etikette.“

(Nur zur Sicherheit: Ich möchte eine solche männliche Übergriffigkeit in keiner Weise verharmlosen, sie ist im echten Leben absolut zu verurteilen ist – im Kontext von Bennetts Geschichte darf man sich aber darüber amüsieren, zumal alle Damen im Haus sich Woodruff mit einem schicksalsergebene „Na gut, aber machen Sie schnell“ stellen.)

ExzentrikerInnen unter sich: Diese Zitronen haben allesamt noch viel Saft!

Wir begegnen neben Woodruff natürlich noch anderen BewohnerInnen: Mrs Foss beispielsweise, die vielleicht noch etwas jung ist für das Heim, aber umso gewillter, neue Freundschaften zu schließen und sich einzubringen, Mr Peckover, der Altertümchen liebt, oder auch Mrs Porteous, die gerne auf die Dienstleistungen des bereits erwähnten Gus zurückgreift, denn: „Das ist solch eine schöne Abwechslung zu den Trickbetrügern.“

In diesen Mikrokosmos, der sich um eine Heimleitung dreht, die es mit dem Thema „Eigentum“ nicht immer ganz ernst nimmt, bricht nun das wahre Leben ein in Form von Corona, was nicht alle BewohnerInnen überleben werden. Das hört sich brutal an, und das ist es auch. Aber Alan Bennett ist ein Meister des britischen Humors – und ZEIT TOTSCHLAGEN deswegen ein großes Vergnügen. Zumal man auch noch etwas über den Molotov-Cocktails erfährt, den man bekanntlich nicht trinken sollte.

Ein Buch, zwei Texte – der eine gelungen, der andere … okay-ish?

Die Qualität seiner Fiktion kann man Bennetts Corona-Tagebuch nicht immer zusprechen, aber auch dieses bietet immer wieder herrliche Momente: „Eine Karte von Tom King mit Neuigkeiten über mein Gesicht, das er sich auf den Arm hat tätowieren lassen“, notiert Bennett am 16. April: „Beim Geschlechtsverkehr ist es ein amüsanter Gesprächsanlass. – Daraus lässt sich wohl schließen, dass der Verkehr nicht sonderlich leidenschaftlich ist, denn mein Name an sich dürfte eher eine abschwellende Wirkung haben.“

Wem das nun doch zu sehr Altherrenhumor ist – von dem ich Bennett trotz aller Bewunderung vermutlich nicht ganz freisprechen kann –, dem wird vielleicht dies besser gefallen: „Das Beste, was man von einem Leser oder einer Leserin erwarten kann, ist deren Gedanke: ‚Hier weiß jemand, wie es ist, ich zu sein.‘ Das hat E.M. Forster nicht mit ‚only connect‘ gemeint, aber ich meine es.“

Bennett bezieht sich, wenn ich es richtig recherchiert habe (und mir vom Verlag wünschen würde, er hätte dies für uns getan oder Ingo Herzke machen lassen, der die 107 Seiten wie immer fließend aus dem Englischen übertragen hat), dabei auf Forsters Roman HOWARDS END aus dem Jahr 1910, in dem „Only connect the prose and the passion“ ein Appell an unser aller Menschlichkeit ist, um emotionale und soziale Brücken zu bauen, statt uns zu isolieren. In Zeiten der Pandemie kann enger Austausch natürlich tödliche Folgen haben, besonders für einen älteren Menschen wie den Autor (Jahrgang 1934), weswegen Bennett trocken bemerkt: „Heutzutage heißt ‚nur verbinden‘ die Ellbogen aneinander zu stoßen.“

Wir kommen zum Ende – und zu einem Verbraucher*innen-Hinweis!

Wie immer gilt: SEE YOU LATER ist, wie jedes Buch von Alan Bennett, ein schönes Geschenk, sowohl für sich selbst als auch für andere – denn er ist einfach ein Meister der Beobachtung, der seine spitze Feder bitte (BITTE!) noch lange schwingen möge.

(Allerdings, und davor sei gewarnt: Der Band ZUM TEE, den man in der dem Buch abgehängten Werkübersicht findet, ist nur die Singleauskopplung dreier Texte aus MISS FOZZARD FINDET IHRE FÜSSE. Was ich, so steht es zu befürchten, sofort wieder vergesse … und die Mogelpackung bei Gelegenheit zum wievielten Mal bestelle? Ach, was weiß denn ich. Die eigentliche Botschaft an dieser Stelle ist sowieso: „LEST BENNETT! Und fühlt euch wohl dabei.“)

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Ich habe dieses Buch selbst im niedergelassenen und unabhängigen Buchhandel gekauft. Bei meiner Rezension handelt es sich nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung: Sie gibt lediglich meine subjektive und unbeeinflusste Meinung wieder.

Alan Bennett: SEE YOU LATER. Aus dem Englischen von Ingo Herzke. Wagenbach, 2025.